#Erstarrung im Fluchtkorridor

Fragile Zeiten an russischen Bühnen: Der zynische Konstantin Bogomolow verhöhnt die europaaffinen Intellektuellen, doch das Antikriegsstück der inhaftierten Regisseurin Schenja Berkowitsch ist stets ausverkauft.

Wer in diesen Frühsommertagen Moskau be­sucht, den erinnern nur die allgegenwärtigen Werbeplakate für den Vertragssoldatendienst, die wenigen nichtuniformierten jungen Männer auf der Straße sowie fehlende Besucher aus dem „fernen“ Ausland an Russlands Ukrainefeldzug und dessen Folgen. Die Kulturszene pulsiert, auf die Straßenkunstbiennale folgt ein Buchfestival, Konzerte neuer Musik sind eng getaktet, sodass man den Verlust vieler Künstler und Kulturkonsumenten erst auf den zweiten Blick bemerkt. Doch manche Bühnen leben von ihren Reserven.

Das Wachtangow-Theater, das unter der Leitung des litauischen Regisseurs Rimas Tuminas zur Höchstform fand, zeigt weiterhin dessen kurz vor dem russischen Einmarsch ins Nachbarland herausgekommene Inszenierung von Tolstois „Krieg und Frieden“. Da Tuminas jede Kooperation mit Russland abgebrochen hat, tilgte das Haus den Namen des Regisseurs von Werbebannern und der Website und empfiehlt die Produktion nun als „traditionelle“, gleichsam anonyme Arbeit. Dass in dem Stück der (napoleonische) Krieg als aus der Raumtiefe vorrückende Schicksalsmauer die auf weitgehend leerer Bühne agierenden Figuren zu impertinenter Walzermusik vor sich her und ins Unglück treibt, wurde seinerzeit als existenzieller Blick auf das Geschehen gefeiert. Heute wirken die Verzweiflungsgesten einer Natascha Rostowa oder eines Pierre Besuchow auch wie ein Bild der Verlorenheit von Russlands europäisierter Intelligenzia.