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#In fremder Haut

In fremder Haut

Die Schauspielergarderobe ist die Werkstatt der Verwandlung. Sie ist das letzte Refugium, bevor es hinausgeht in die Schlacht, ein Hort der Kontemplation und der inneren Sammlung. Nach der geglückten Premiere kann sie sich in einen Teil der erweiterten Bühne verwandeln, wo Huldigungen und Blumensträuße entgegengenommen werden. Aber bevor sich der Vorhang hebt, gleicht sie der Klause eines Eremiten. In den letzten Minuten, bevor er auf die Bühne muss, ist der Schauspieler manchmal entsetzlich allein. Dann kann die Künstlergarderobe der einsamste Ort der Stadt sein.

Hubert Spiegel

Allerdings ist der Schauspieler an diesem Ort ja nie wirklich allein. Es ist immer noch eine andere Person mit ihm dort, nämlich jene, die er gleich verkörpern soll. Hamlet, Lear, Blanche DuBois oder Becketts Wladimir und Estragon, vielleicht sind sie alle nie lebendiger, nie störrischer und eigensinniger als in den letzten Minuten, bevor sie sich gemeinsam auf den Weg zur Bühne machen, der Schauspieler und seine Figur. Was passiert mit den beiden in jener letzten halben Stunde vor Vorstellungsbeginn?

Arbeit, Disziplin, Talent

Der Prozess, der nötig ist, damit ein Mensch für einen genau bestimmten Zeitraum einen anderen verkörpern kann, ist ein Mysterium. Was wir sehen, ist in der Regel immer nur das Ergebnis eines solchen Prozesses. Damit er gelingt, sind gewisse Zutaten nötig: Arbeit, Disziplin, Talent, Intuition, Erfahrung, Leidenschaft, Genie. Über das Wechselspiel dieser Zutaten, ihre chemische Reaktionen untereinander, lässt sich unendlich viel sagen – also fast nichts. Der Vorgang der Metamorphose selbst vollzieht sich im Unsichtbaren. Simon Annands soeben im Verlag Salz und Silber erschienener Fotoband „Time to Act“ ist der Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Lindsay Duncan vor ihrem Auftritt in „Hay Fever“ (Noel Coward Theatre, 2012)



Bilderstrecke



Jenseits der Bühne
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Theaterfotografien von Simon Annand

Annand arbeitet seit Jahrzehnten am Theater. Das heißt: Er beobachtet Schauspieler, um sie zu fotografieren. Aber seine Beobachterposition ist nicht die des Zuschauers und auch nicht die des Kritikers. Denn er sieht Schauspieler, wie sie sonst niemand sieht, der nicht selbst zum Theaterbetrieb gehört. Annands Arbeiten entstehen wie bei allen Theaterfotografen überwiegend während der Proben, einige davon waren auch schon in dieser Zeitung zu sehen, etwa zu Peter Brooks Inszenierung von „The Prisoner“. Aber in seinem neuesten Band hat er Fotografien versammelt, die allesamt jenseits der Bühne angesiedelt sind, an jenen Orten, die dem Publikum in der Regel verborgen bleiben: Flure, Gänge, Hinterbühnen, vor allem aber Garderoben. Es sind die Maschinenräume der Phantasie.

Stars aus Hollywood

Seit siebenunddreißig Jahren fotografiert Annand Schauspieler kurz vor ihrem Auftritt. Es sind unbekannte Talente darunter, Namenlose, aber auch viele jener internationalen Stars, die es zwischen Dreharbeiten in Hollywood immer wieder auf die Theaterbühne zieht. Meistens steht diese Bühne in London. Annand hat Anthony Hopkins, Bryan Cranston und Benedict Cumberbatch im National Theatre fotografiert, Vanessa Redgrave und Ethan Hawke im Old Vic, Mark Rylance im Apollo und Cate Blanchett im Ethel Barrymore Theatre. Wir sehen John Goodman im Wyndham’s weit vornübergebeugt mit aufgerissenen Augen und herausgestreckter Zunge. Ein seltsames Ritual? Nein, nur eine von vielen Übungen zum Dehnen, Lockern, Aufwärmen. Aber die wichtigste Übung sieht am unspektakulärsten aus: Konzentration, Versenkung, Übergang. Judi Dench entspannt sich hingegossen auf einem Sofa bei einer Tasse Tee, Jeremy Irons hat sich mit einem Sitzkissen auf der schmalen Fensterbank drapiert und schaut rauchend zum Fenster hinaus, als wäre dort draußen eine ganze Welt und nicht nur ein eingemauerter Lichthof.

Manchmal gleichen sich die Blicke: Orlando Bloom, James Fox und Zoë Wanamaker schauen mit derselben prüfenden Intensität in den Spiegel wie Vanessa Redgrave. Worauf achten sie? Auf Haare, Mundwinkel, den Härtegrad des Blicks? David Suchet, der vierundzwanzig Jahre lang und in siebzig Folgen den belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot verkörpert hat, nahm 2015 eine Rolle am Londoner Vaudeville Theatre an: Er spielte Oscar Wildes Lady Bracknell in „The Importance of Being Earnest“. Es war die erste Komödieninszenierung für das Mitglied der Royal Shakespeare Company seit 1994 und die erste Frauenrolle in seiner fünfzigjährigen Karriere. Das Stück hält Suchet für den „Hamlet“ unter den englischen Komödien und Lady Bracknell für die Ikone einer in ihrem Standesdünkel gebeizten Unverschämtheit. Ihr Geschlecht, sagte er gegenüber dem „Independent“, habe für ihn eigentlich keine Bedeutung.

Sie verkörpere einen bestimmten Typus der britischen Gesellschaft, der zufällig als Frau geboren wurde. Ob David Suchet das Zufällige am Geschlecht seiner Figur mitgespielt hat? Woran zeigt es sich? Wie bewegt sich eine Figur, die eine ganze gesellschaftliche Schicht repräsentieren soll? Was für einen Gang hat sie? Es gibt viel zu entscheiden in der letzten halben Stunde in der Garderobe, allein mit der fremden Haut, in der man schon steckt.

Simon Annand: „Time to Act“. Einzigartige Fotografien. Erstklassige Schauspieler. Weltberühmte Theater. Verlag Salz und Silber, Augsburg 2020. 256 S., geb., 40,– €.

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