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#Irrenriss der Grundanstalt

Irrenriss der Grundanstalt

„Alle Personen und Geschichten sind aus der Luft gegriffen“: Dieser Satz steht Gerhards Roths 1984 erschienenem Buch „Landläufiger Tod“ voran, der auf achthundert Seiten die Aufzeichnungen eines Anstalt-Insassen protokolliert. Dass ein als Roman ausgewiesenes Werk zusätzlich noch diese poetische Fiktionsbeschwörung benötigt, liegt vielleicht daran, dass Roth oft dokumentarisch oder wie ein Reporter schreibt. Ganz deutlich wird das etwa in seinem Essayband „Reise in das Innere von Wien“ (1991), der sich dezidiert in den Untergrund der Stadt begibt und Abgründe aufdeckt.

Der 1942 in Graz geborene Roth, der nach einem abgebrochenen Medizinstudium und der Arbeit in einem Rechenzentrum Anschluss zu den Avantgardisten des Grazer Forums Stadtpark fand und schließlich freier Schriftsteller wurde, sah sich früh inspiriert von der Verbindung von Arzt und Dichter: Er plante seinen Weg zum Schreiben über die Medizin zu finden „wie Benn, wie Döblin oder Celine“. Bei diesen Vorbildern liegt es nahe, mit einer Ästhetik des Hässlichen und Schrecklichen konfrontiert zu werden, und der frühe Kurzroman „Der Wille zur Krankheit“ scheint direkt an Baudelaire geschult. Dort heißt es, wohlgemerkt aus der Sicht einer Figur: „Die Symptome von Krankheiten, schrieb Kalb, müssen als Kunstwerke betrachtet werden. (. . .). Man stelle sich die Schönheit epileptischer Anfälle vor, wenn der Körper sich am Boden herumwirft, oder die Ästhetik eines Blutsturzes über ein Bettlaken!“

Im Irrgarten der Bilder

Krisen, auch solche der Wahrnehmung, stehen im Zentrum von Roths Schreiben, so auch im Roman „Der stille Ozean“, der 1983 von Xaver Schwarzenberger verfilmt wurde und auf der Berlinale den Silbernen Bären gewann. Seit seiner 2007 erschienenen Autobiographie weiß man um Roths persönliche Nähe zu psychiatrischen Themen. Fasziniert besuchte er über Jahrzehnte die Landesnervenheilanstalt Gugging und dokumentierte Erfahrungen mit Patienten und Ärzten in dem Text-Foto-Band „Der Irrgarten der Bilder“. Sein Umgang mit Krankheit hat auch sprachspielerische Züge. „Irrenriss der Grundanstalt“ ist etwa eine Skizze überschrieben, die in „Landläufiger Tod“ mit abgebildet wird.

Wie viele österreichische Intellektuelle seiner Generation sah Roth sein Land geprägt von einem fortlebenden Nationalsozialismus, kaschiert von einer „Scheinmoral“. Im geistigen Klima entdeckte er „Gemeinheit und Hinterfotzigkeit“, die er ähnlich scharf attackierte wie etwa Thomas Bernhard. Manisch schreibend zu bewältigen suchte er sie in dem siebenbändigen Romanzyklus „Archive des Schweigens“ und dem achtbändigen Zyklus „Orkus“. Roth sprach selbst, unter Bezug auf Freud, vom Versuch der Analyse des „kollektiven Alptraums“ und einer „Psychoanalyse der Geschichtsschreibung“.

Zwischen Shakespeare und Fußball

Roth schrieb auch Drehbücher und Theaterstücke; seine Faible für das Krimi-Genre vertiefte er im letzten Lebensjahrzehnt in drei parodistischen Venedig-Romanen, darunter der mit dem Shakespeare inspirierten Titel „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“ (2019), in dem ein suizidaler Literaturübersetzer auf einen Comissario Galli trifft.

Was fehlt dann noch zu einem kompletten Schriftsteller? Die Liebe zum Fußball, natürlich. Gerhard Roth war Fan seines Heimatvereins Sturm Graz, aber er träumte von noch Größerem. „Roth schlägt Leeds United“ ist einer seiner Kurztexte überschrieben. Es handelt sich dabei freilich um den Münchner Spieler Franz „Bulle“ Roth, der 1975 beim Europapokal der Landesmeister in Paris, „29 Jahre, 1,78 groß und 80 kg schwer, die Bayern in Führung schoß“ – nicht ahnend, dass er damit „einem Schriftsteller auf der Nordtribüne zu einer Titelzeile verhalf, die ein großer Wunsch seiner Jugendjahre gewesen war“. Am Dienstag ist Gerhard Roth in Graz gestorben.

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