#Ja nicht auffallen beim Abituraufsatz
Inhaltsverzeichnis
Die von Saša Stanišić im Jahr 2019 beim Deutschabitur in Hamburg niedergeschriebene Klausur über einen Vergleich von Fontanes „Cécile“ mit seinem eigenen zweiten Roman, „Vor dem Fest“, gehört zu den sonderbarsten Textformen der deutschen Gegenwartsliteratur. Schon die Herstellungsbedingungen des dann 2022 in der „Zeitschrift für Germanistik“ abgedruckten Textkonglomerats sind ungewöhnlich: Ein Autor mit nicht ganz eindeutiger Motivation analysiert und interpretiert fünf Stunden lang, bis sein Arm „höllisch weh“ tut, wie er später auf Twitter schreibt, auf 22 Seiten zwei Romanszenen und verfertigt, in Erfüllung des dritten kreativen Teils der Aufgabenstellung, eine neue dazu. Dabei benutzt er, um das Schreibexperiment zu schützen, in das die korrigierende Lehrerin nicht eingeweiht ist, ein Pseudonym – Elisabeth von Bruck –, welches eher in die Welt Fontanes als in die seine verweist und eine weibliche Autorenschaft vorgibt.
Die Textanalyse wird so zu einer Art Rollenprosa, Stanišićs Interpretation einer Episode aus seinem eigenen Roman (Aufgabe zwei) ist darüber hinaus, wie die „Zeitschrift für Germanistik“ in ihrem Vorspann zu Recht schreibt, ein „besonderer Ausnahmefall von Selbstkommentierung“.
Wird Stanišićs Textproduktion bei der ersten Aufgabe dadurch erschwert, dass er die Voraussetzungen seiner „Mitschüler“ nicht teilt – Unterrichtseinheiten über Fontane und den Realismus hat er naturgemäß nicht mitbekommen –, wird sie in der zweiten Aufgabe dadurch erleichtert, dass er mit dem Personal und der Handlung seines eigenen Romans bestens vertraut ist. Mit der dritten Aufgabe schließlich, der Neuerfindung einer Szene, in der Figuren aus beiden Romanen zusammengeführt werden sollen, kann der Autor ureigenes poetisches Terrain betreten.
Dafür gab es sicher Punktabzug
Insgesamt verlangt der Textvergleich allen Hamburger Prüflingen ein erhebliches Maß an Transferleistung ab. Denn die vorgelegten Romanepisoden haben wenig miteinander zu tun. Der Umstand, dass in dem Gegenwartsroman aus dem Jahr 2014 Fontane am Rande erwähnt wird, liefert nur vordergründig eine Verbindung, denn der Kontext ist überaus kryptisch. Seit der Schließung einer Tankstelle, heißt es in „Vor dem Fest“, führen die Bewohner Fürstenfeldes „weniger im Kreis durch das Dorf und mehr geradeaus nach Woldegk, Fontane rezitierend, die, die Fontane auswendig kennen“, womit sich Stanišić möglicherweise auf die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ bezieht. Das war’s dann aber schon zu Fontane in dem Roman.
Betrachtet man die Teiltexte von Stanišićs Klausur genauer, fällt auf, dass er sich mit der ersten Aufgabe, der Charakterisierung Céciles, merklich schwertut. Offenbar muss sich der von der Schule entwöhnte Autor erst einmal eingrooven und sucht daher Halt in langen, akademisch klingenden Formulierungen. Doch schon im zweiten Absatz ändert Stanišić den Ton, argumentiert bewusst einfühlend und versucht, an der Textvorlage eigene Begeisterung zu entzünden – auf engstem Raum verwendet er zwei Mal das Wort „wunderbar“, am Ende heißt es: „[M]an freut sich regelrecht auf die Ankunft des Paares im Harz.“
Immer wieder gibt es Passagen, die auffällig mündlich klingen, bemerkenswert auch, mit welchen Mitteln Stanišić versucht, der eigenen Gedankenfülle Herr zu werden. So verwendet er nicht nur Abkürzungen, sondern häufig auch Stichworte in Klammern und einmal sogar die Listenform. Epochenmerkmale kommen nur in zwei kurzen Absätzen vor – dafür gab es sicher Punktabzug.
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