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#Kampf ums nackte Überleben im Bordell

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Kampf ums nackte Überleben im Bordell

Im November 2009 hatte der spanische Dramaturg Miguel Alcantud eine Idee. Auf der Suche nach neuen Theaterformen für ein Land, das im Vorjahr in die Immobilienkrise gestürzt war und den Raum für lebendige Kulturarbeit immer enger werden sah, versammelte Alcantud fünfzig Regisseure, Autoren und Schauspieler in einem ausgedienten Bordell in der Madrider Altstadt und ließ dort zwei Wochen lang kurze Theaterstücke von je zehn bis fünfzehn Minuten Länge spielen. Eine neue Form für eine neue Zeit war geboren: das Mikrotheater.

„Por dinero“, gegen Geld, nannte sich das Projekt – so wie auch die Prostituierten, die den Theatermachern das Thema ihrer ersten Zusammenkunft lieferten, nur für Geld gearbeitet hatten. Später fand die Initiative an der Grenze zwischen Malasaña und Chueca, den Madrider Vierteln für queere Kultur, eigene Räume und richtete sich dauerhaft ein: oben eine Bar, im Keller ein Flur und fünf kleine Zimmer.

Das Prinzip verfestigte sich und wurde zur eisernen Regel. Jedes neue Stück dauerte maximal fünfzehn Minuten, wurde auf fünfzehn Quadratmetern und vor höchstens fünfzehn Personen gespielt. Pro Abend gab es acht verschiedene Werke, die nach einem ausgetüftelten Stundenplan parallel liefen, und der damalige Preis von drei Euro pro Ticket verwandelte das Microteatro von Madrid in eine Kultveranstaltung der Off-Szene. Hier ließen sich lange Abende verbringen, ob im Theaterzimmer, an der Bar oder draußen auf der Straße mit einem Bier in der Hand. Auch der eine oder andere bekannte Filmregisseur kam vorbei und inszenierte ein Stück. Jeden Monat sichtete die Leitung mehr als hundert neue Werke – nur eine Handvoll kam durch.

Mehr als 2000 kurze Theaterstücke

In den folgenden Jahren entstanden in den USA, aber auch in Lateinamerika Ableger des Mikrokonzepts aus Madrid. Als das Microteatro 2019 sein zehnjähriges Bestehen feierte, klebte auf einem Plakat an der Wand die stolze Bilanz von 120 Monaten pausenloser Produktion: 700 Regisseure, 850 Autoren, 1400 Schauspielerinnen und Schauspieler hatten hier gearbeitet und zusammen mehr als zweitausend kurze Theaterstücke aufgeführt.

Was danach mit der Pandemie kam, schildert die Geschäftsführerin Verónica Larios, eine Frau der ersten Stunde, nüchtern und ohne jedes Pathos: der Kampf ums nackte Überleben. Ein Großteil der Schauspieler kann von dieser Form der Theaterarbeit selbst in besseren Zeiten nicht existieren, sondern muss sich beim Radio, beim Film oder in der Zahnpastawerbung verdingen. Fünf Monate harter Lockdown in Madrid brachten alle, die ihr Engagement in das Theater gesteckt hatten, an den Rand ihrer Möglichkeiten. Selbst bei fünf Euro Eintritt pro Mikrostück und einer Schauspielerbeteiligung von siebzig Prozent am Erlös bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man aus Sicherheitsgründen nur noch die halbe Zuschauerzahl einlassen darf. „Wir mussten ein Konzept für den Neubeginn entwickeln“, sagt Verónica Larios, „und es musste so gut sein, dass die Zuschauer wiederkämen – ausgerechnet zu uns, die wir aus der körperlichen Nähe zum Publikum, die jetzt so gefährlich geworden war, immer eine Tugend gemacht hatten.“

Hier wird agiert, umarmt, gerungen und geweint, alles zum Greifen nah.


Hier wird agiert, umarmt, gerungen und geweint, alles zum Greifen nah.
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Bild: Microteatro por dinero

Der Tag der Wiedereröffnung ist allen Beteiligten noch ins Gedächtnis eingebrannt. Seit dem 18. August 2020 spielt das Mikrotheater wieder an sechs Tagen in der Woche, wirbt um sein Publikum und lebt exemplarisch den Satz: „Kultur ist Widerstand“, zumindest gegen die Umstände. Die Sicherheitsmaßnahmen sind beträchtlich und werden pingelig durchgezogen. Immerhin finden sie in einem liberalen städtischen Klima statt. Alles in Madrid hat geöffnet; Maskenpflicht gilt drinnen und draußen. Dieser Besucher hat in gut zwei Stunden fünf Stücke gesehen, ging fünfmal dieselbe Treppe hinunter und ließ sich dafür brav fünfmal die Temperatur messen. Zwischen uns, den maximal sieben Zuschauern, und den Schauspielern hängt eine Plexiglaswand, so dass die Akteure ohne Mund-Nase-Bedeckung spielen können. In der Pause desinfiziert ein UV-Gerät die Luft.

„Man ist mit allen fünf Sinnen dabei, wenn man so oft und in so einem engen Rahmen dasselbe spielt“, sagt die Schauspielerin Estrella Olariaga. „Und man muss die Energiekurve im Auge behalten.“ Seit neun Jahren gehört Olariaga zum Stamm des Mikrotheaters. Ein paar Minuten später sehen wir sie wieder, in einer Aufklärungsfarce von hysterischem Witz. Laut lachen, blöd lachen, mit Fremden lachen: Wann hatten wir das zuletzt?

Schnell, anzüglich und voller Slapstick sind die meisten Stücke dieses Abends, aber es gibt auch eine historische Phantasie über Calderón de la Barca, einen der Säulenheiligen des Goldenen Zeitalters, mit Epochenkostümen und allem Drum und Dran. Trotz Plexiglas zwischen uns und den Schauspielerinnen fährt den Besuchern die kaum noch gewohnte Intimität des gegenwärtigen Spiels in die Seele: Hier wird agiert, umarmt, gerungen und geweint, alles zum Greifen nah, und die Leidenschaft des Theaterspiels fegt die Ödnis des Distanzhaltens in der sogenannten wirklichen Welt für ein paar Minuten hinweg. Es sind solche Minuten, die Bühnenkunst über Film und Fernsehen hinausheben.

Vielleicht das kompakteste, konzentrierteste Stück des Abends erzählt mit einfachsten Mittel eine schwule Liebesgeschichte aus den Jahren, da Aids noch tötete. Aber so, wie die beiden Darsteller sie auf vier bis fünf Quadratmetern zum Leben erwecken, haftet der Geschichte nichts Gestriges an. „Das Mikrotheater ist eine andere Art zu spielen“, hat uns einer der beiden Darsteller, Joaquín López-Bailo, im Gespräch gesagt, bevor sein Arbeitsabend begann. „Die Zuschauer kommen uns so nahe, dass man sich keine Sekunde lang verstecken kann. Es kann einschüchternd sein, aber es setzt auch unglaubliche Kräfte frei.“ Etwas von dieser freigesetzten Kraft ist immer noch zu greifen, als sich die Zuschauer um zehn Uhr abends animiert auf den Heimweg machen. Die pandemische Welt hat sie wieder, aber jetzt wissen sie: Es gibt ein Morgen nach der Sperrstunde.

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