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#Kein richtiger Tweet im falschen Netz

Kein richtiger Tweet im falschen Netz

Jia Tolentino war 16, als sie zum ersten Mal verstand, was es bedeutet, dass das Ich ein anderer ist. In einem Einkaufszentrum nimmt sie an einem Casting für eine Reality-Show teil, aus einer Laune heraus, scherzhaft angestachelt von ihren Eltern. Und wird genommen. Drei Wochen lang dreht sie in Puerto Rico die Sendung „Girls v. Boys“. Vier Jungs, vier Mädchen, ein Ferienhaus mit Etagenbetten, Challenges am Strand, es geht darum, wer am schnellsten einen Berg scharfer Mayonnaise essen kann und wer zuerst mit wem knutscht. Aber vor allem geht es natürlich darum, wer man sein will – oder wer man sein soll.

Harald Staun

Harald Staun

Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

Wie jeder Teenager beschäftigt sich Jia Tolentino ausgiebig mit solchen Fragen, macht sich Sorgen, wie ihre Freundinnen und Klassenkameraden sie sehen, überlegt sich vor der Show, wie sie verhindern kann, wie eine Schlampe auszusehen, ohne prüder zu wirken, als sie sich selbst sieht. Aber schon damals drehen Tolentinos Gedanken über die richtige Selbstinszenierung die wildesten Schleifen: Nicht nur „überwacht“ sie sich selbst, um möglichst so zu leben, „wie ich ‚wirklich bin‘“, schreibt sie in ihr Tagebuch. Sondern befürchtet gleichzeitig auch, dass ihr ihre Performance durch diese Selbstüberwachung viel zu stark bewusst wird, dass sie Gefahr läuft, eine „Rolle meiner selbst“ zu werden.

Paradoxerweise ist es gerade die Teilnahme an der Reality-Show, die sie aus dieser Form von Paranoia befreit: Sie kommt vor lauter Beobachtung mit dem Selbstbeobachten gar nicht mehr hinterher: „Solange alles eine einzige Performance war, schien es unmöglich, bewusst zu performen“, schreibt sie nun in einem Essay in ihrem Buch „Trick Mirror“, in dem sie, fünfzehn Jahre später, auf ihre Erfahrungen von damals zurück- und von dort aus wieder in die Gegenwart blickt. „Das Wissen darum, gesehen zu werden, vertrieb meinen Wunsch, mich selbst zu sehen, mich als Rolle zu analysieren. (…) Nach ein paar Jahren glaubte ich, dass der Eindruck, den ich auf andere Menschen machte, wie das Wetter war, nämlich außerhalb meiner Kontrolle.“

Aus diesem Grund schaut sich Tolentino die Show, als sie im Fernsehen läuft, nie an. Erst für die Recherche zu ihrem Essay besorgt sie sich die alten Aufnahmen, spricht mit den anderen Teilnehmern und der Produzentin. Und merkt, dass ihre Fernseherfahrung sie doch nicht ganz von ihrem Wahrnehmungstaumel befreit, sondern eher unterbewusst geprägt hatte: „Der Anpassungsprozess meines äußeren Ichs verlief so instinktiv, so automatisch, dass ich ihn nicht mehr bewusst wahrnehmen konnte. Das Reality-Fernsehen machte mich frei von der Selbstwahrnehmung und band mich zugleich an sie, indem es die Selbstwahrnehmung untrennbar mit allem anderen vereinte. Das war eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets.“

Mit solchen Meta-Reflexionen traf Jia Tolentino Ende 2019, als „Trick Mirror“ in den Vereinigten Staaten erschien, den Nerv von ein bis zwei ganzen Generationen von Menschen, zu deren täglicher Praxis es gehört, im Spiegelkabinett sozialer Medien ein halbwegs angemessenes und vorteilhaftes Bild von sich zu entwerfen. Die Kritiker überhäuften das Buch mit Lob und waren sich nur in der Frage nicht ganz einig, ob Tolentino die „Susan Sontag der Millennials“ („Washington Post“) oder die „Joan Didion unserer Zeit“ („Vulture“) sei. Und das knallige Cover machte sich auf den Fotos, mit denen avancierte Instagramer ihre eigene reflektierte Selbstwahrnehmung präsentieren konnten, sogar noch besser als die schicke Tote Bag des „New Yorker“, für den Tolentino seit 2016 regelmäßig schreibt.

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