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#Keine Sandkunst mehr

„Keine Sandkunst mehr“

Wir sehen, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Sie sieht es nicht. Die Augen der alten Frau sind nicht auf die Sanduhr gerichtet, die dem Gemälde Maria Lassnigs aus dem Jahr 2001 den Titel gibt. Auch uns blickt die Greisin nicht an. Ihr Blick geht in die Ferne, und ebenso weit geöffnet wie die Augen ist ihr Mund. Das könnte eine Alterungserscheinung der bedauernswerten Art sein, ein Indiz der Pflegebedürftigkeit. Die Herrschaft über die körpereigene Mo­to­rik schwindet mit der Zeit, das Unwillkürliche nimmt überhand. Maria Lassnig war 82 Jahre alt, als sie dieses Selbstporträt malte.

Patrick Bahners

Feuilletonkorrespondent in Köln und zuständig für „Geisteswissenschaften“.

Aber das synchrone Aufsperren der drei Öffnungen des Kopfes – bei näherem Hinsehen fallen auch die Nasenlöcher auf; das Gesicht ist in leichter Untersicht gegeben – lässt sich zwanglos als konventionelles Zeichen einer Unterbrechung der Selbstbeherrschung lesen. Die Frau staunt, sie sieht etwas Wunderbares, Großartiges oder jedenfalls Großes. Sollte es ihr Spiegelbild sein, obwohl es ihr vertraut sein müsste, wie wir Maria Lassnigs Gesichtszüge aus fast jedem ihrer Bilder kennen? Sie hält die Sanduhr in der linken Hand, zeigt sie vor – und hat dann keine Augen für das Werkzeug. Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass sie ihren Körper nicht in der Gewalt hätte. Das Brustbild macht den Eindruck starker Spannung, gerade der Verzicht auf Konzentration lässt Energie hervorbrechen.

Entblößt in direkter Farbigkeit

Dass die Uhr ihren Dienst getan hat, der Durchlauf vollendet ist und der gesamte Sand jetzt einen Haufen im unteren Glasgehäuse bildet, sehen wir wohl erst auf den zweiten, wahrscheinlicher noch dritten Blick. Denn der Sand ist rosa. Das ist der Grundton im Spektrum der Fleischfarben und also bei einem Akt alles andere als auffällig, obwohl tatsächlich nur schmale Streifen des nackten Fleisches in dieser Farbe ausgeführt sind, der illuminierte Rand des Zeigefingers und kleine Lichtreflexzonen um Nase und Augen. Der Trichter, die obere Hälfte der Apparatur, ist leer, das Glas durchsichtig, was hier unsichtbar heißt. Dahinter liegt ein beliebiger Ausschnitt der von Orange und Gelb dominierten Fleischlandschaft, entblößt in direkter Farbigkeit fast ohne vorgelagerten Effekt von Brechung.

Im Schaffen von Maria Lassnig gibt es eine große Werkgruppe der Selbstporträts mit Attributen. Von allen Accessoires aus dem ikonographischen Fundus ist das Stundenglas sicherlich das Ding, das man am einfachsten versteht. Die als Trägerin des Symbols porträtierte Person wird scheinbar mit Haut und Haar zur allegorischen Figur – beziehungsweise ohne Haar, denn dieses hat Maria Lassnig wie auf vielen Bildern weggelassen. Der gerupfte Zustand steigert hier die Suggestion, dass ihre Erscheinung ganz in der Sinnhaftigkeit aufgeht. Sie verkörpert die Vergänglichkeit des Leiblichen: Die bildfüllende Knochenfrau macht den Sensenmann ar­beits­los, führt einen Totentanz als Solonummer auf.

Konstruktivistisches Vertigo: Maria Lassnig malte das „Körpergehäuse“ schon 1951.


Konstruktivistisches Vertigo: Maria Lassnig malte das „Körpergehäuse“ schon 1951.
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Bild: Maria Lassnig Stiftung / VG Bild-Kunst, 2022

Hinfällig aber ist in Wahrheit die überlieferte Bedeutung der Zeichen. Der gleichmäßige Fluss der Körner als Inbegriff des gleichgültigen Vergehens der Zeit wird sistiert, indem sich die Sanduhrträgerin ih­rem Attribut gegenüber gleichgültig zeigt. Das Kunstwerk kann die Zeit nicht aufhalten, aber anhalten.

Mit gewollter Nachlässigkeit, also abstrakt

Der Betrachter wird dadurch verführt, von dem im Titel genannten Gegenstand abzusehen, dass die Malerin ihn mit ge­woll­ter Nachlässigkeit darstellt: abstrakt, auf Linien reduziert, als Rechteck, das von einem Kreuz ausgefüllt wird. Mit diesem Schematismus der einfachsten Kinderzeichnung kontrastieren die zur Drastik ge­stei­ger­ten realistischen Mittel, mit denen sich die alte Frau zur Schau stellt. Grelle Farben, starke Konturen und grober Pinselstrich wirken als Chiffren der Vitalität. Und doch ist der Titel „Die Sanduhr“ keine Irreführung. Der kunterbunte Frauenkörper ist konstruiert, und als Vorlage diente das Schema der gekreuzten Diagonalen: So­wohl die Montage des Kopfes auf den Schultern als auch die Physiognomie mit ihrem Gegensatz gelber und roter Zonen wiederholen die durch Verjüngung im Zen­trum definierte Grundform der Sanduhr.

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