#Kommentar über Bidens Wahlsieg: Der Spuk geht weiter
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„Kommentar über Bidens Wahlsieg: Der Spuk geht weiter“
Seinen Wahlsieg versteht Joe Biden als einen Beginn: als „Anfang vom Ende der düsteren Ära der Dämonisierung in Amerika“. Ob es so kommt, hat der Demokrat kaum selbst in der Hand. Gewiss, der künftige Präsident wird politischen Gegnern mit Respekt begegnen. Er wird Twitter nicht als Mobbingmaschine benutzen. Er wird nicht die eine Bevölkerungsgruppe gegen die andere aufhetzen, nicht einer Hälfte der Bürger per se gute Absichten absprechen.
Dass sich aber die Amerikaner, die Biden nicht gewählt haben, dieses Angebot anhören, ist nicht ausgemacht – geschweige denn, dass sie es annehmen. Und dass die Amerikaner, die Biden gewählt haben, alle erpicht auf einen Brückenschlag sind, darf man ebenfalls bezweifeln.
Das Jetzt-sind-wir-dran ertönt längst laut aus den Demokraten-Hochburgen. Man kann den Kandidaten wählen, der Anstand, Einigkeit und Heilung verspricht, und dennoch Rachegelüste hegen. Die Biden-Wähler werden den Trump-Wählern noch lange ihr Wie-konntet-ihr-nur entgegenhalten. So wie in der weiten, „roten“ Fläche des Landes ein Ihr-seid-nicht-Amerika-Ressentiment den Blick auf die blauen Küstenstreifen und Großstadtinseln prägt.
Biden versteht auch das ländliche, das religiöse, das vom Strukturwandel heimgesuchte Amerika. Mit seiner Zuneigung zum ganzen Land ist er prädestiniert, zunächst dem eigenen Lager ins Gewissen zu reden. Denn solange sich Linke in der Gewissheit gruseln, dass 70 Millionen schießwütige, religiös indoktrinierte, tumbe Rassisten Donald Trump wichtiger genommen hätten als die Demokratie, so lange wird sich in Amerika nichts verbessern.
Rechthaberei schüttet keine Gräben zu
Die Amerikaner beider Seiten müssen sich vor Augen halten, dass sie sich selbst von Werten wie Anstand, Würde und Wahrheit nicht mehr denselben Begriff machen. Mit Rechthaberei lassen sich diese Gräben nicht zuschütten. Doch Biden kann nicht darauf bauen, dass sein Heilungswunsch den eigenen Leuten Befehl ist. Dafür ist er zu sehr ein Kompromisskandidat und mit bald 78 Jahren eine Übergangsfigur.
Erst recht kann Biden nicht darauf bauen, dass sich die Republikaner zur Versöhnung verführen lassen. Egal, wie lange Trump noch braucht, bis er seine Niederlage eingesteht, sein sensationeller Mobilisierungserfolg gibt ihm ein gefühltes Mandat, sich weiter einzumischen: mit Spott für „Sleepy Joe“ und Attacken auf republikanische „Verräter“, die mit Biden Kompromisse schließen.
Die Republikaner haben gute Chancen, die Mehrheit im Senat zu verteidigen. Bleiben sie dem Trumpismus treu, dann könnten sie Biden enge Grenzen setzen; Pandemie und Rezession hin, Rassismus und Erderwärmung her. Barack Obama kann ein Lied davon singen.
Als dessen Vizepräsident weiß Joe Biden, wie Versöhnungsrhetorik an den Machterhaltungslogiken in Washington und an den Echokammern im ganzen Land abprallt. Er hat denn auch etwas bescheidenere Ziele benannt, zum Beispiel, dass sich die Gemüter kühlen – das wäre schon viel. Man darf daraus aber nicht schließen, dass es dem Wahlsieger an Selbstbewusstsein fehlte.
Wer sich in seiner Siegesrede in eine Reihe mit Lincoln, Roosevelt, Kennedy und Obama stellt, der zählt nicht insgeheim die Monate, bis er das höchste Amt seiner Vizepräsidentin Kamala Harris anvertrauen kann. Doch Biden weiß: Amerika ist von vielen Dämonen befallen. Dass Trump als Verkörperung der Feindseligkeit bald das Weiße Haus verlassen muss, bereitet dem Spuk noch kein Ende.
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Andreas Ross
Verantwortlicher Redakteur für Politik Online und stellvertretender verantwortlicher Redakteur für Nachrichten.
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