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Die Schuld vom Lande

Dass sich in amerikanischen Kleinstädten hinter gepflegten Büschen und vermeintlich ordentlichen Verhältnissen der Abgrund verbirgt, ließ sich Anfang der Neunziger mit der Serie „Twin Peaks“ ergruseln. David Lynchs und Mark Frosts Serie von 1990 und 1991 sowie der Film von 1992, dem 2017 eine dritte Staffel folgte, haben in ihrer Raffinesse Fernsehgeschichte geschrieben. Auch „Cruel Summer“ von Bert V. Royal spielt Anfang der Neunziger in einer amerikanischen Kleinstadt, wie sie typischer im Fernsehen nicht zu sehen ist. Man könnte sie als Hommage an „Twin Peaks“ sehen und wäre nicht enttäuscht. Übersähe dann aber den ganz eigenen Unheimlichkeitston von „Cruel Summer“, einen, der auf den ersten Blick handlungsökonomisch ein wenig konventionell wirkt, der aber mit den fundamentalen Verwirrungen der Adoleszenz, mit ­Rollenzuschreibung und Identitätsfindung amerikanischer Teenager und den brutalen Konsequenzen, die ein offen ausgetragener Beliebtheitswettbewerb unter Provinzbeautys zeitigen kann, spannend spielt und tödlichen Ernst macht.

Es beginnt, so heißt es in der Auftaktfolge, „etwa“ am 21. Juni 1993, 1994 und 1995. Drei parallel geschnittene Anfänge, dreimal Sommeranfang und Beginn der Ferien. Dreimal der Geburtstag von Jeanette Turner (Chiara Aurelia). Dreimal wird sie morgens geweckt. 1993: Jeanettes fünfzehnter Geburtstag, Vater, Mutter und Bruder versammelt an ihrem Bett, singen, scherzen, hopsasa. 1994: Der sechzehnte Geburtstag. Boyfriend Jamie (Froy Gutierrez) weckt Jeanette mit zärtlichem Kuss, Kerze und Liebesschwur, happiness. 1995: der siebzehnte Geburtstag. Schroff weist der Vater Jeanette an, aufzustehen. Einer ihrer Anwälte sei da und müsse sofort mit ihr reden. Mühsam schält sich die Übermüdete aus den Decken. 1993 ist Jeanette noch der Nerd des Jahrgangs der einzigen Highschool am Ort, Zahnspange, ungebändigtes Haar, lustige Klamotten, mit den entsprechenden Außenseiterfreunden, sozialdarwinistisch ignoriert von den an­gesagten Mitschülern. Vincent (Allius ­Barnes) und Mallory (Harley Quinn Smith) radeln mit Jeanette herum, schlagen Zeit im Einkaufscenter tot, planen, in diesem Sommer wenigstens einmal etwas Ungesetzliches zu tun. Noch mampft Jeanette Torte ohne Rücksicht auf das Maß, lacht lauter als die anderen Mädchen, sprudelt über vor kreativen Ideen.

Die Nahtstellen der Jahre verschwimmen

1994: Das Haar ist glatt, die Schminke dezent, aus dem „hässlichen Entlein“ ist eine angepasste Schönheit als Miniaturausgabe der Damen mit der straff gespannten Haut geworden. Jeanettes Freundinnen sind so neu wie ihr dezentes Benehmen, eitel Sonnenschein. 1995: ­Tiefe Augenringe, raspelkurzes Haar, Grungeklamotten. Kurt Cobain ist tot, lasset alle Hoffnung fahren. Aus den Nachrichten tönt, dass Jeanette die meistgehassteste Jugendliche der Nation sein soll.

Mit dieser parallelen Erzählstruktur auf drei Zeitebenen, in der man sich schon wegen der Farbgebung (1993 sonnenblumenwarm, 1994 irgendwie normal, 1995 kalthassblau) umstandslos als Zuschauer zurechtfindet, geht es weiter durch die Folgen. Manchmal beginnt ein Lauf auf der Straße in einem Jahr und streift die beiden anderen. Die Nahtstellen der Jahre verschwimmen häufig. Wobei chronologisch erzählt wird, aber dem Entbergen gewisser Ereignisse genau so viele neue Verhüllungen folgen. Dinge passieren. Menschen begehen Taten, von denen keiner wissen soll und die umso schlimmere Folgen haben. Vor allem für die zweite Hauptfigur, Kate Wallis (Olivia Holt). Die gleichaltrige Schulschönheit, die den begehrtesten Boyfriend hat, Jamie, der im Jahr darauf mit Jeanette zusammen ist. In der ersten Folge begegnet Jeanette Kate zum ersten Mal beim Shoppen, ihre Blicke inszeniert die Serie wie einen Spiegel, der das Bild der anderen gleichzeitig zurückwirft und verändert. Beauty Queen und Nerd, inmitten quietschbunter Warenwelt, doppelbödig unheimlich. Man schreibt Juni 1993. Wenige Tage darauf wird Kate entführt und vom neuen stellvertretenden Schuldirektor Martin Harris (Blake Lee) in den Keller seines Hauses gesperrt. Mit seltsamer Konsequenz kapert in der Folge Jeanette Kates Aussehen, ihren Freund, die Clique, anscheinend ihr ganzes Leben. Oder scheinbar? Welches Verbrechens hat Jeanette sich schuldig gemacht und soll deswegen 1995 vor Gericht? Warum braucht sie eine ganze Armada von Anwälten? Und was geschah wirklich mit Kate Wallis, der unschuldigen Provinzblume?

Tiefstes Texas, politische Einstellungen rechts der Mitte, Gartenpartys, weiße Frauen, die ihre Zeit mit der Erhaltung ihres Äußeren verbringen, weiße Männer, deren Ansehen sich am beruflichen Erfolg misst, es sei denn, sie sind Sportlegenden und werden hofiert, wie der schwarze ehemalige Footballprofi, der Kates Stiefvater ist. Die Welt der Erwachsenen sieht in „Cruel Summer“ schwer nach „Stepford Wives“ aus, jenem Filmhorror über dauerlächelnde, geschmeidige Ehefrauen, die sich als programmierte Ergebenheitsmaschinen entpuppen. Diese Welt ist aber eben bloß Kulisse des Pubertäts-Psychothrillers, der sich auf seinen drei engstens verwobenen Zeitebenen in verrätselter Erzählstruktur entfaltet. Statt Antworten bieten die zehn Folgen der von Jessica Biel mitproduzierten Amazon-Produktion stets neue Hinweise, die nicht zu Lösungen führen, sondern immer weiter in ein hormonexplosionsschwüles Klima der Verunsicherungen hinein. Ohne Gemeinplätze funktioniert so etwas nicht, und wenn es auch Klischees des weißen Amerikas sind, werden Eltern ihre heranwachsenden Kinder nach „Cruel Summer“ womöglich mit misstrauischeren Augen ansehen.

Cruel Summer läuft bei Amazon Prime.

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