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#Bülent Mumays Brief aus Istanbul über Asylsuchende aus der Türkei

Diese Woche werde ich 47 und feiere das 30. Jubiläum meiner Berufstätigkeit, die ich als Praktikant mit 17 begann. Ich trat damals in die Fußstapfen meines Vaters und wusste von Anfang an, dass dieser Beruf mich nicht reich machen würde. Ich glaubte aber, wenn ich meine Ideale verfolge, verdiene ich doch genug Geld, um satt zu werden und mir jedes Buch, das ich haben wollte, leisten zu können. So kam es glücklicherweise auch. Doch die Wirtschaftskrise, unter der wir seit ein paar Jahren leiden, ist dabei, mir diese geringen Annehmlichkeiten zu nehmen.

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Was ich gestern noch kaufte, kann ich mir aufgrund der ständigen Preiserhöhungen heute nicht mehr leisten. Seit ich eigenes Geld verdiene, musste ich im Supermarkt zum ersten Mal ein Produkt zurücklegen, als ich den Preis sah. Und es war keineswegs ein Luxusartikel, sondern Schafskäse, ein Grundbestandteil des türkischen Frühstücks, den ich etwas beschämt und sehr wütend ins Kühlregal zurücktat. Mir geht es nicht darum, über Armut zu schwadronieren, vielmehr möchte ich Ihnen deutlich machen, wie auch die Mittelschicht, zu der ich mich zähle, schwindet, wie Armut nivelliert.

Bülent Mumay


Bülent Mumay
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Bild: privat

Der — im letzten Monat angehobene — Mindestlohn beläuft sich hierzulande auf rund 400 Euro. Denken Sie aber nicht, dies wäre der niedrigste Lohn und ihn erhalte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. In der Türkei müssen 57 Prozent der arbeitenden Bevölkerung mit dem Mindestlohn auskommen. Und glauben Sie auch nicht, es ginge hier zu wie früher in den Ostblockländern, wo man mit wenig Geld alles Mögliche kaufen konnte. Mittlerweile ist die Türkei nicht einmal mehr für jene, die in Euro bezahlt werden, und für Touristen ein günstiges Land. Bei Ihnen zahlen Sie sechs Euro für ein Kilo Rindergehacktes, wir dagegen, die wir nur 400 Euro im Monat verdienen, zahlen zwölf Euro dafür beziehungsweise zahlen es eben nicht.

Eine Hassrhetorik, die alle, die anders sind, dämonisiert

Die Fleischpreise sind binnen sechs Jahren um 808 Prozent gestiegen, wie sollen wir das bezahlen? Selbst Obst und Gemüse sind im Agrarland Türkei kaum noch erschwinglich. Innerhalb von zehn Jahren fiel die Anzahl jener, die täglich ein Stück Obst verzehren können, von 57 auf 36,5 Prozent. Dank Erdoğans Wirtschaftspolitik steigen die Nahrungsmittelpreise seit 33 Monaten ununterbrochen. Und das, obwohl laut FAO-Daten die Lebensmittelpreise weltweit auf das niedrigste Niveau der letzten zwei Jahre gesunken sind.

Nicht allein unser Magen steckt in der Klemme. Wir ersticken in einer Atmosphäre, in der Andersdenkenden das Existenzrecht abgesprochen wird. Einwände gegen Erdoğans Regierung oder die kulturelle Hegemonie, die er zu errichten bestrebt ist, werden scharf sanktioniert. Eins nach dem anderen werden Konzerte von Künstlern verboten, die den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu unterstützen. Nachdem der Pop-Rock-Musiker Mabel Matiz und die Singer-Songwriterin Melike Şahin bei einer Preisverleihung gegen Repressionen gegen LGBTI+-Menschen protestierten, wurden ihre Konzerte abgesagt. Queer zu sein ist in der Türkei heute dank Erdoğan und des von seinen Medien gepredigten Hasses extrem gefährlich. Mit der Hassrhetorik, die alle, die anders sind, dämonisiert, hält die Regierung ihre nationalistisch-konservative Wählerschaft bei der Stange.

Aus illusorischen Anklageschriften werden echte Szenarien

Heute diffamiert Erdoğan Oppositionelle, die er früher bezichtigte, Terroristen zu sein, mit dem „LGBT-Anhänger“. Bei der ersten Fraktionssitzung im Parlament nach dem Wahlsieg, warf Erdoğaner dem Oppositionsführer vor: „Um von globalen Machtzentren gelobt zu werden, wollten Sie die LGBT-Plage, die den Fortbestand der Gesellschaft bedroht, legitimieren. Bye-bye, Kemal, Sie sind ein LGBT-Mann. Und die Leute an Ihrer Seite sind LGBT-Anhänger.“ Diese Rhetorik wirkt auf die Straße zurück. Im Pride-Monat wurden alle Aktivitäten mit Polizeigewalt unterdrückt. Bei Pride-Paraden wurden mehrere Hundert Personen festgenommen, Teilnehmer mit ausländischem Pass wurden in Abschiebecamps gebracht. Unter denen, die abgeschoben werden sollen, findet sich ein iranischer Homosexueller. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie es ihm nach der Abschiebung in Iran ergehen wird.

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