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#Leber und leben lassen

Leber und leben lassen

Die Ausgangssituation in Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ wirkt selbst wie eine Versuchsanordnung, ersonnen an einem feuchtfröhlichen Abend: Eine Gruppe mittelalter Männer, allesamt sind sie Lehrer, kommen bei einem Abendessen in gediegenem Ambiente und dem ein oder anderen Glas Wein auf eine These des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud zu sprechen. Laut der ist der Mensch mit 0,5 Promille zu wenig im Blut geboren, was ihn weniger musisch und offen leben lässt, als es möglich und doch wünschenswert wäre.

Die Idee fällt bei den Anwesenden auf fruchtbaren Boden. Allesamt haben sie wie ihre Leben an Strahlkraft verloren, beruflich und privat funktionieren sie allenfalls, bewegen sich in geordneten Bahnen, in denen die einzige noch denkbare Überraschung der Zerfall, das Chaos wäre. Besonders der Geschichtslehrer Martin, grandios gespielt von Mads Mikkelsen, befindet sich in einer waschechten Krise und sieht sich nicht nur mit einer Horde Eltern konfrontiert, die im Namen der Kinder seine Funktion als Lehrer infrage stellen.

Auch in der Ehe mit seiner Frau Anika (Maria Bonnevie) wird aneinander vorbeigelebt, und die Gespräche stocken. Man fühlt die Tristesse, das Auf-der-Stelle-Treten, das eigentlich nur noch auf eine erlösende Störung von außen wartet. Klandestin wie sonst allenfalls unter Schülern selbst greift Martin infolgedessen auf dem Schulklo, von den Überlegungen der vorigen Nacht inspiriert, zur Flasche und stellt fest, dass ihn der systematisch eingesetzte Rausch tatsächlich gen Welt hin öffnet.

Mit konstantem Pegel

Mit neuer Leichtigkeit und von der bisweilen nötigen Durchsetzungsfähigkeit beseelt, kann er seine Schüler wieder für den Unterricht gewinnen. Sie finden Gefallen an seinem neuen Auftreten, und Martin scheint selbst ein wenig überrascht von dem pädagogischen Feuer und der Leidenschaft, die noch in ihm schlummern.

Die Kollegen vom Vorabend bekommen Wind von der Sache, denn Martin kann, ein Nachteil des Ganzen, nicht mehr Auto fahren und benötigt einen von ihnen als Fahrer. Gespannt lauschen die anderen kurz darauf Martins Schilderungen seiner Erfahrung und sind sich einig, es ihm gleichzutun. Auch sie gehen wenig später vom Rausch beflügelt und mit neuem Elan ans Werk, und man beschließt, das Ganze erst einmal weiterzubetreiben, dabei aber einige Regeln für den kontrollierten Gebrauch des Alkohols einzuführen. Trinken nur tagsüber. Wie Hemingway, so wähnt man sich noch in großen Fußspuren.

Rausch unter Laborbedingungen

Überdies einigt man sich darauf, einen wissenschaftlichen Essay über das Experiment zu schreiben, damit das Vorgehen der einfachen, belanglosen Dummheit enthoben ist. Man möchte sich selbst – wer kennt es nicht? – auf Änderungen hinsichtlich verbal-motorischer und psycho-rhetorischer Fähigkeiten unter Alkoholeinfluss untersuchen. Die Promillegrenzen werden später sukzessive erhöht, ein Versuch im Versuch, und man folgt dem Ganzen stets mit dem Blick des teilnehmenden Beobachters.

Bildtechnisch orientiert sich Vinterberg nämlich gerade so sehr an seinen Wurzeln im Dogma-Film, dass es der Immersion zuarbeitet, reminiszenzartig. Die immer leicht wackelige Kamera lässt einen von Anfang an teilhaben am Geschehen, ist aber nicht so dominant als ästhetisches Element wie noch in „Das Fest“. Alles wird herrlich unaufgeregt erzählt, die Dialoge sind dabei subtil und von immer wieder aufblitzender Komik getragen. Etwa wenn Martin von seiner Frau Anika wissen möchte, ob sie ihn langweilig finde, und diese nur mit einer Gegenfrage antworten kann: Verglichen mit was?

Die Ambiguität, die in der Komik schlummernde Tragik, die das Trinken, gerade wie es hier dargestellt wird, gezielt und in der Sphäre der Arbeit, bei der Verrichtung der Pflicht, und heimlich, mit sich bringt, lädt das Ganze mit Spannung auf. Getrunken wird schnell auch während des Unterrichts auf dem Sportplatz, im Musikraum, während die Kinder – klar – zur Fokussierung auf das Ohr beim Singen dänischer Traditionslieder doch bitte einmal kurz die Augen schließen, und letztlich auch ganz ungeniert während der Lehrerversammlung. Aus der Thermosflasche und schon sichtlich mit Schlagseite. Die Quittung kommt nicht sofort, aber sie kommt.

Denn natürlich kann das systematische Trinken auf Dauer nur schiefgehen, und man bekommt schonungslos vor Augen geführt, welches Leid im Rausch ebenso angelegt ist wie das kurzfristige Hochgefühl der Entgrenzung, das ihn gerade für die Protagonisten in ihrer Midlife-Crisis so verheißungsvoll macht. Dabei glückt die Balance durchwegs, denn es wird, untypisch dieser Tage, der Versuchung widerstanden, das Ganze unnötig dramatisch zu übertünchen, wodurch erst unmittelbare Nähe zum Geschehen entsteht.

Keine didaktische Botschaft stellt sich in den Weg, und kein Fingerzeig möchte einem den gedanklichen Weg weisen. Die realistische Abbildung ist wirkmächtig genug. Keine darübergelagerte Dichotomie von Richtig und Falsch nimmt im Nachhinein zurück, was man bis dahin miterlebt hat: dass Glück und potentielles Elend bisweilen verwoben sind. Die Freude und die befreienden Momente, die die Freunde durch den Rausch erleben, werden weder idealisiert noch im Angesicht ihrer Schattenseiten nur als Fehltritt oder Schwäche deklariert.

Das wird durchgehalten bis zu der fulminanten Schlussszene, die sich ganz dem Augenblick verschreibt, untermalt mit dem Song „What a Life“ von Scarlet Pleasure, der einen mit Gefühlen schönster Gegenwärtigkeit entlässt, aber eben auch mit der Ungewissheit hinsichtlich Martins Zukunft. Der Rausch bleibt eine offene Sphäre. Dafür wird er hier facettenreich geschildert. Dabei tut dem Ganzen gerade die Nüchternheit in der Darstellung vor allem der düsteren Szenen gut – die Weigerung, die Dinge auf irgendeine Seite hin aufzulösen.

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