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#Als Adorno fast einmal die SPD auseinandergenommen hätte

Als Adorno fast einmal die SPD auseinandergenommen hätte

Prof. Dr. Theodor Adorno Frankfurt am Main 16. September 1965

Lieber Herr Enzensberger,

kaum war mein Brief abgesandt, so ist mir, einem Modellfall von Treppenverstand, etwas für das KURSBUCH eingefallen, was mir ein wenig wie ein Kolumbusei vorkommt: eine Kritik des Godesberger Programms der SPD. Da kann man nun wirklich alles daran zeigen, worauf es in dieser Situation ankommt. Ob ich selber das machen soll, oder nur meine Vorschläge dazu, und ob man dann die Ausarbeitung kollektiv vornimmt, wage ich im Augenblick nicht zu entscheiden; mein Gefühl ist, daß eine solche Arbeit, wenn sie von mehreren getan wird, manche Vorzüge vor einer individuellen hat. Natürlich wird es dabei notwendig sein, jedem Mißbrauch im Sinn der SED und des kommunistischen racketts vorzubeugen; das bekäme ich wohl fertig. Unter Umständen könnte man zu der Sache auch Herbert Marcuse zuziehen. All das jedoch sind curae posteriores; heute wüßte ich nun gern, wie Sie grundsätzlich auf die Idee reagieren. Mir ist sie darüber gekommen, daß ich es nicht über mich brachte, Aufrufe für die SPD zu unterschreiben, wozu man mich sehr gedrängt hat; und dann entdeckte ich, daß mein Exemplar des Godesberger Programms so viel Annotationen enthält, daß sie eigentlich schon dem Entwurf einer solchen Sache entsprechen.

Alles Herzliche, stets Ihr Adorno

***

22.9.65

lieber und verehrter herr adorno,

das ist ein ganz vortrefflicher gedanke, einer, für dessen baldige verwirklichung alles spricht, ich hätte es nicht gewagt, sie direkt und unumwunden um eine solche arbeit zu bitten. lassen sie mich nun ein paar der gründe anführen, die sie dringlich machen: die niederlage der spd läßt eine aussicht, wie schwach auch immer, auf die sprengung des großen kartells zu. dieser moment ist der richtige für eine kritik des godesberger programms. ein motiv von geringerem gewicht, aber eines, das für uns nicht ohne bedeutung ist: das deutschland-heft des kursbuchs, das im januar 1966 erscheinen wird, bietet für die publikation einer solchen kritik die besten voraussetzungen. ich wüßte nicht, wann eine so günstige gelegenheit wiederkäme. denn das ganze heft ist einer gründlichen revision der sogenannten deutschen frage zugedacht, von der übrigens niemand recht anzugeben weiß, wie sie lautet und an wen sie sich richtet.

ich möchte also ganz ohne scham zur eile antreiben, gewiß ließe sich eine gründliche und kollektive ausarbeitung denken, ein versuch von großem umfang. doch zweifle ich daran, daß dies die beste lösung wäre. ich würde einer lakonischen fassung den vorzug geben, die im richtigen augenblick, das ist: in diesem winter noch, ans licht käme. dies aber vermögen nur sie allein. die vorarbeit dazu ist schon getan: es bedürfte nur einer explikation dessen, was ihre notizen zum programm der spd in nuce enthalten. ein solcher text von ihrer hand könnte eine tiefe wirkung tun. verzeihen sie meine ungeduld: es ist aber nicht ein redakteur, der hier drängt, es ist die sache selber. wir müßten die kritik des godesberger programms in der ersten november-woche zum druck geben. bitte überdenken sie den plan und sagen sie mir bald, ob er sich verwirklichen läßt. nicht nur dem kursbuch wäre damit geholfen.

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