#Macht die Grundschulen auf!

Herr Schleicher, Deutschlands Umgang mit den Schulen in der Pandemie ist ein mittelprächtiges Desaster. Sie verantworten seit 20 Jahren die internationalen Pisa-Tests. Was sollte Deutschland jetzt tun?

Deutschland ist mit der Digitalisierung zehn Jahre zu spät dran. Aber viele Schulen haben sich mit guten Lösungen für den Online-Unterricht auf den Weg gemacht. Von diesen Schulen können andere Schulen lernen. Aber die guten Lösungen verbreiten sich nicht. Im deutschen Schulsystem fließt Information fast nur von oben nach unten, manchmal auch von unten nach oben – aber sie fließt sehr selten quer.

Viele gute Ideen werden auch bürokratisch verhindert.

Viele Schulleitungen nutzen die bestehenden Spielräume noch gar nicht. Ich war mal in China und habe dort Schulen besucht. Dort setzen Lehrer innovative Pädagogik und neueste Techniken ein. Ich habe gefragt: Ist das autorisiert? Da sagte mir der Schulleiter: „In China sind viele Sachen nicht verboten und viele Sachen nicht erlaubt, in dieser Grauzone liegt unsere Chance.“ Gerade diese Krise hat doch viele Spielräume geschaffen. Wer heute Dinge anders macht, findet Akzeptanz.

Nicht immer. In Thüringen kommt der Datenschutzbeauftragte und droht mit 1000 Euro Bußgeld.

Ich weiß. Aber das passiert nur, weil so wenige Leute innovativ sind. Wenn Innovation die Norm wird, dann wird auch die soziale Akzeptanz wachsen. Die Bürokratie ist immer dann stark, wenn die Initiative schwach ist.

Ist reiner Online-Unterricht nicht sowieso ein Problem für Schüler, die es ohnehin schwer haben?

Vor allem ist Online-Unterricht in den ersten Schuljahren ein Problem, wo Lehrkräfte als Bezugsperson so wichtig sind. Lernen ist ja nicht allein Wissenstransfer, sondern vor allem ein sozialer Prozess! Deshalb müssen wir eine Balance finden zwischen Bildung und Infektionsschutz. Selbst in der gegenwärtigen Infektionslage habe ich wenig Verständnis dafür, dass Grundschulen und Kindergärten flächendeckend geschlossen werden. Schulschließungen haben langfristig schwerwiegende Folgen, vor allem in den ersten Schuljahren und vor allem für Kinder aus sozial benachteiligtem Umfeld.

Immer noch ist umstritten, wie ansteckend Kinder sind. Wäre es nicht auch schädlich, wenn die Kinder in der Schule das Virus verbreiten?

Wenn Sie die Schulen schließen, sind die Kinder nicht weg. Die sind noch da und treffen sich vielleicht unkontrolliert. Schulen können einen geordneten Rahmen für soziale Distanzierung schaffen.

Die Infektionszahlen in Deutschland sind hoch, die Zeichen stehen eher auf noch weiter gehende Einschränkungen.

Frankreich schränkt das Leben auch ein, in diesen Tagen sogar noch weiter. Trotzdem bleiben die Schulen offen. Dafür werden andere Kontakte reduziert. Auch so hat das Land seine zweite Welle gebrochen.

Viele Eltern haben Angst vor einer Ansteckung. Manchmal gehört in der engen Familie auch jemand zur Risikogruppe.

In so einer Situation müssen Lehrkräfte mit den Eltern sprechen. Da werden sich pragmatische Lösungen vor Ort finden – und dann sollten wir den Lehrkräften auch die Flexibilität und Autorität geben, nach dem Gespräch manchmal zu sagen: Das akzeptiere ich, dann komm halt nicht zur Schule.

Die meisten Lehrer engagieren sich ja selbst sehr dafür, dass die Schulen geschlossen bleiben.