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#„May December“ mit Julianne Moore: Das Schauspiel-Duell des Jahres

Natalie Portman und Julianne Moore vor dem Spiegel in
Foto: François Duhamel/Netflix

In dem grandiosen Drama „May December“ begeben sich Julianne Moore und Natalie Portman in menschliche und schauspielerische Abgründe.

Lassen sich Menschen wie Tiere studieren? Bei Lebewesen in Aquarien und Terrarien, etwa bei verpuppten Raupen und schlüpfenden Faltern, da klappt das noch gut. Dort können sich Menschen noch überlegen fühlen, ein anderes (Selbst-)Bewusstsein im Geiste voraussetzen. Charles Melton, der in „May December“ den Joe Yoo spielt, beobachtet jene Geschöpfe durch Gaze-Netz. Das Gewebe trennt das Innen und Außen durch eine dünne, halbdurchsichtige Schicht. Man spannt es, um Schädlinge fernzuhalten, Schutzzonen zu schaffen, aber auch um Lebewesen einzusperren. Und in einem ersten großen ästhetischen Kniff überspannt Regisseur Todd Hayes gewissermaßen seinen gesamten Film mit einem solchen feinen Gewebe, als würde sein Publikum mit einem forschenden Blick von außen auf diesen Mikrokosmos blicken.

Die Bilder von „May December“ sind mit einem wahrnehmbaren Filmkorn untersetzt. Sie schimmern schlierig, sind mit einem leichten Rauschen verfremdet und trüben die Sicht mit einer latenten Barriere. Sie halten dem Publikum jederzeit vor Augen, dass es sich auf den scharfgestellten Fokus nicht komplett verlassen kann. Das, was vermeintlich so eindeutig erkennbar vor einem liegt, bleibt immer nur eine verstellte, nie gänzlich durchdringbare Haut und Oberfläche. In dem Moment, da das zu studierende Objekt und Subjekt Blicke zurückwirft, eigenes und fremdes Begehren in einen zweischneidigen Austausch tritt – da hat ein Rollenspiel längst an Fahrt gewonnen. Die empfundene Hierarchie im Observieren löst sich auf. Wo man sich als Beobachter in sicherer Distanz wähnt, ist längst ein komplexerer Prozess im Gange.

Joe Yoo mit seinem Sohn auf dem Dach in Joe Yoo mit seinem Sohn auf dem Dach in
Joe trauert seiner verlorenen Jugend nach. Foto: Netflix

„May December“ handelt von der Verfilmung einer Skandal-Affäre

Todd Haynes, einer der spannendsten Filmemacher der Gegenwart, nutzt diese grundlegende Distanz und visuelle Reibung für ein permanentes Spiel mit bröckelnden Maskeraden und Gefühlen. Seine Figuren intrigieren und betrügen, lächeln und umgarnen sich. Permanent bleibt ein Unbehagen zurück, weil am Wahrheitsgehalt ihrer Inszenierung Zweifel bestehen müssen. Alte Lebenslügen tun sich als Risse im Alltag auf. Verkümmertes erblüht, Gefestigtes stürzt zusammen. Menschen entpuppen sich fortlaufend auf diese oder jene Weise – insofern passt die eingangs angedeutete Schmetterlingsmetapher.

„May December“ tischt seinen Zuschauern dabei einen Stoff aus den feuchten Träumen der Boulevardblätter auf: Ein Sex-Skandal hat sich ereignet. Im Hinterzimmer einer Zoohandlung vergnügte sich die 36 Jahre alte Gracie (Julianne Moore) mit dem erst 13-jährigen Joe. Rund zwei Dekaden später führen die beiden eine nach außen hin glückliche Beziehung und genießen das Vorstadtleben mit ihren mittlerweile fast erwachsenen Kindern. Mit der Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) kommt nun allerdings der Schädling und Parasit in diese heile Welt. Die hitzig diskutierte und medial ausgeschlachtete Affäre von einst soll in einen Spielfilm verwandelt werden. Es ist die zweite Verfilmung. Die erste, eine trashige, reißerisch softerotische Adaption, zeigt „May December“ nur in irrwitzigen Auszügen.

Elizabeth soll für das neue Filmprojekt in die Rolle von Gracie schlüpfen und will das reale Vorbild aus unmittelbarer Nähe studieren, um es möglichst wahrhaftig verkörpern zu können. Was sich hieran anschließt, ist ein ganz wunderbares, höchst unterhaltsames Verwirrspiel, in dem fast jeder Versuch, einander zu durchdringen und näherzukommen, an Grenzen stößt. Mit jedem Gespräch und Interview, jeder bezeugten Situation im Alltag der skandalumwitterten Familie entstehen neue Rätsel und Ungewissheiten.

Natalie Portman und Julianne Moore vor dem Spiegel in May DecemberNatalie Portman und Julianne Moore vor dem Spiegel in May December
Konfrontation zweier Hollywood-Stars. Foto: François Duhamel/Netflix

Julianne Moore und Natalie Portman spielen förmlich um die Wette

Todd Haynes entwirft höchst ambivalente, vielschichtige Gestalten, die sich dann dem Zugriff entwinden, wenn man gerade glaubt, sie verstanden zu haben. Julianne Moore spielt Gracie als bemitleidenswerte, neurotische Figur, die ihre Tage mit überflüssigem Backwerk in der Küche verbringt. Sie bewegt sich am Rande des psychischen Kollaps, sobald die alltäglichen Gepflogenheiten und Rituale gespielter Freundlichkeit in der Nachbarschaft einmal ins Straucheln geraten. Zugleich festigt sich mit jeder Minute ihre Rolle als abgebrühte Strippenzieherin und Täterin, die von der Vergangenheit lieber nichts wissen will.

Und dann ist da Natalie Portman, die mit gewohnter Eleganz und Unnahbarkeit durch ihre Szenen wandelt und als Beobachterin fortwährend aktiv in das Geschehen und Treiben ihrer Anschauungssubjekte eingreift. Portman und Moore in einem Schauspiel-Duell zu begreifen, trifft genau den Kern dessen: ein Wetteifern um Überzeugung und Kontrolle über eine oder mehrere Rollen. Man kämpft um die Deutungsmacht und Erkenntnis bestimmter Sachverhalte, Deutungshoheit über das Auftreten und Handeln in öffentlichen und privaten Räumen.

Julianne Moore und Natalie Portman in Julianne Moore und Natalie Portman in
Gracie und Elizabeth werden zu Doppelgängerinnen. Foto: François Duhamel/Netflix

Wie weit kann die Verwandlung gehen?

Es ist eine unglaublich verführerische und verstörende Verwandlungsnunmer, die die beiden Hollywood-Stars präsentieren. Wie sie über Nachahmung zu Doppelgängerinnen werden und sich dann wieder aufspalten: In Schürzen stehen sie im Garten, nehmen ähnliche Haltungen ein und rufen nach ihren Geliebten. Doch ist Platz für beide in dieser Welt? Wie weit kann die Ähnlichkeit gehen und handeln, wenn sie nicht nur äußerlicher Natur bleiben will? Gesichtsausdrücke und Gesten werden studiert. Erst anhand alter Gazettenfotos, dann leibhaftig in Person.

Vor dem Spiegel tragen die beiden Frauen, bedrohlich sexuell aufgeladen, Schminke auf. Der Mensch, das sind auch die Produkte, mit denen er sich umgibt und eine Fassade schafft. Jetzt will Elizabeth diese Produkte ihrer Rolle am eigenen Körper spüren. Schauspiel wird so zum erotischen wie furchteinflößenden Akt, um Distanzen und die eigene Persönlichkeit zu überwinden, mit anderen zu verschmelzen. Aber ab welchem Punkt erlangt dieser Akt etwas Gewalttätiges, Anmaßendes, Indiskretes?

Im surrealen Zwielicht der Zoohandlung simuliert Elizabeth den sexuellen Akt von einst, um sich in der Vergangenheit zu wähnen. Das Experimentieren, Verführen, die Eifersüchteleien und Affären, die Intrigen, die sich in „May December“ zwischen dem Gestern und Heute entspinnen, beschäftigen sich nicht nur mit dem Boulevardesken und Reißerischen. Sie werden selbst im Gewand einer überzeichneten Soap Opera, eines abgründigen Boulevardstücks vorgetragen und führen selbiges ad absurdum. Wie Todd Haynes aufreibende musikalische Akzente setzt, wie er hemmungslos gefühlige Gesten in Extreme führt, aber auch in ihrer ganzen Banalität ausstellt, ist von einem verblüffenden, doppelbödigen Witz durchzogen. Konsequent wird so das Buhlen um die perfekte, natürliche und authentische Darstellung in diesem doppelt gebrochen und zusammengefalteten Film irgendwann einmal auf links gedreht.

Restaurant-Szene in Restaurant-Szene in
Überall Spiegel und Bilder Foto: Netflix

„May December“ wird Zuschauer frustrieren

„May December“ dürfte Zuschauer definitiv verärgern, wenn sie den Kinosaal mit der Gewissheit verlassen wollen, gänzlich verstanden zu haben, was genau in der Familie vor sich geht, wer hier wen auf welche Art und Weise manipuliert. Todd Haynes braucht nämlich diese Offenheit und Mehrdeutigkeit, um den verunsichernden Kern seiner Schauspielstudie auszubreiten. Das umfasst das künstlerische Schauspiel und das Schauspiel im Alltag. Weil es ihm letztlich mehr um das psychologische Erzählen und Spielen als um das eigentliche psychologische Drama selbst geht.

Den immer wieder aufflammenden Method-Acting-Wahn, bei dem Darsteller krampfhaft versuchen, mit Haut und Haar mit ihrer Rolle zu verschmelzen, ihr Ich zu tilgen und dafür ihre Körper zurichten, zeigt Haynes als vertracktes ideologisches Labyrinth. (Soziale) Rollen werden bei ihm mit einer komplexen, stilbewussten Bildsprache in allerlei Projektionen, Abziehbilder und Spiegelungen aufgeteilt und neu zusammengesetzt.

Natalie Portman in Großaufnahme Natalie Portman in Großaufnahme
Die Bühne gehört Natalie Portman. Foto: François Duhamel/Netflix

Ein menschliches Spiegelkabinett

Im Kleidergeschäft sitzen Gracie und Elizabeth und warten vor Spiegeln; ihre Bilder erscheinen hier und dort. Man kann nicht mehr sagen, wo die „echte“ Person sitzt und wo nur ihr Bild wahrnehmbar ist. Und wo steht überhaupt die Kamera in alldem? Menschen verschmelzen im Fensterglas mit ihrer Umwelt. Eine Familie sitzt im Restaurant ihrem unheilvollen Ebenbild gegenüber. Und am Ende entsteht bei all dem eifrigen Studieren, Verwandeln und Verkörpern doch nur eine Interpretation, eine Auslegung, die Fremdes und Eigenes, Kunst und Leben auf Konfrontationskurs schickt und sich selbst kaum noch vertrauen kann.

Portman bringt diese nicht bahnbrechend neue, aber konsequent durchexerzierte Erkenntnis in umwerfenden, großaufgenommenen Schlussmonologen und Spielsituationen auf den Punkt. Das Endlose und die Unauflösbarkeit im kreativen und zwischenmenschlichen Prozess sind so passend wie frustrierend pointiert. Dass „May December“ an dem Punkt endet, an dem es im Künstlichen und Unerklärbaren, in den blinden Flecken und offenen Fragen, gerade „echt“ zu werden scheint, ist seine gewitzte und unausweichliche Finte. Ihre Wahrheit und Wahrhaftigkeit findet sie in der Täuschung und im Trugschluss. Nachdem der Film bei der Oscar-Verleihung sträflich vernachlässigt wurde und in den USA schon vor Monaten auf Netflix verheizt wurde, ist es eine Freude, dass er in Deutschland zwar reichlich spät, aber immerhin auf der großen Leinwand startet.

„May December“ läuft seit dem 30. Mai 2024 in den deutschen Kinos. Auf DVD erscheint der Film voraussichtlich im September und kann bereits vorbestellt werden.

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Von

Janick Nolting

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