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#Mein Haus, die offene Wunde

„Mein Haus, die offene Wunde“

Kiew, Tag 123 der Generalinvasion. Sonntag, früher Morgen. Die Stadt bebt unter langgezogenem Sirenengeheul. Der Luftalarm hält an. Ich schwebe zwischen wirrem Schlaf und angespannter Wirklichkeit. Schrecke hoch vom Donnern einer Explosion. Frage meine Frau: „Habe ich das nur geträumt?“ Olena sagt: „Nein, das war das Metalldach von der Fabrik hier in der Nähe.“ Kurze Zeit später ruft eine Freundin an und sagt: „Volltreffer.“ Gleich darauf ein weiterer Anruf, ein Freund von uns, der nur fünf Minuten entfernt wohnt: „Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber hier kam gerade eine Rakete angeflogen.“ Wir gehen in den Korridor, das ist der sicherste Platz in der Wohnung. Die nächste Detonation kracht.

Eine Rakete schlägt in einem Wohnhochhaus ein. Die nächste in einem Kindergarten. Ein Toter, vier Verletzte.

An dem Tag lese ich in den sozialen Medien die Überlegungen derer, die eigentlich nach Kiew zurückkehren wollten, ihre Pläne jedoch wegen der Angriffe geändert haben: zu früh, zu gefährlich. Die ganze Ukraine ist ein einziger Alarm.

Wieder Sirenengeheul. Ende des Luftalarms. Ich gehe ins Bett, versuche wenigstens noch eine Stunde zu schlafen. Um unser Haus müssen wir uns keine Sorgen machen. Weil wir es schon verloren haben. Gleich am ersten Tag der Invasion.

* * *

Ende des vierten Kriegsmonats. Zum ersten Mal seit dem 24. Februar fahre ich die gewohnte Strecke, die ich früher beinahe täglich gefahren bin. Kiew – Irpin – Butscha – Hostomel. Und Borodjanka, da bin ich vorher noch nie gewesen. Städte, die inzwischen jeder kennt. Städte, denen Russland seinen schwarzen Stempel der Gewalttaten aufgedrückt hat.

Ich will mir das Grauen anschauen, das die russländische Armee hinterlassen hat. Und endlich auch mein zerstörtes Haus in Augenschein nehmen.

* * *

Einfahrt nach Irpin über die Brücke, die auf allen Fotos zu sehen war, als die Be­wohner versucht haben, sich vor den Einschlägen zu retten. Die Brücke steht da in ihrem zerstörten Zu­stand, zur Erinnerung. Ein schlechter Dich­ter würde wahrscheinlich versuchen, aus der Brücke eine Metapher dafür zu machen, wie das Leben vor der Besatzung abgerissen ist.

Der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed ist Mitglied des PEN Ukraine. Sein Buch „Dein Blut wird die Kohle tränken: Über die Ostukraine“ ist im Ibidem Verlag erschienen. Es war in der Ukraine ein Bestseller und stand auf der Longlist des BBC Book Award.


Der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed ist Mitglied des PEN Ukraine. Sein Buch „Dein Blut wird die Kohle tränken: Über die Ostukraine“ ist im Ibidem Verlag erschienen. Es war in der Ukraine ein Bestseller und stand auf der Longlist des BBC Book Award.
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Bild: Sasha Samusevych

Wie an anderen Erinnerungsorten wimmelt es auch an der Brücke von Kunstobjekten, die Laien angebracht haben. Ein Bild lässt die Idee des Künstlers erahnen, auf Picassos „Guernica“ anzuspielen, darüber hängt ein Plakat mit einer englischen Widmung: „This painting is for president Selensky“. Daneben ein Bogen Whatman-Papier, der Platz für Einträge bietet. Die drei auffälligsten Beiträge – man erkennt sie von Weitem – sind: ein großes Herz, die ukrainische Fahne und eines der wohl wichtigsten ideologischen Memes, die Abfuhr für das russische Kriegsschiff vor der Schlangeninsel. Daneben ein umgekippter Kleinbus. Ein Stück weiter ein Kinderwagen unter einer Fahne. Neben uns suchen ausländische Journalisten gerade die beste Position für ihr Foto, damit die Brücke und der umgekippte Bus zusammen im Bild sind. Weitere Leute kommen angefahren, wahrscheinlich mit Freunden von hier. Sie zeigen auf die Kreuzung direkt vor der Brücke: „Hier wurde geschossen, als der Mann mit dem Kind gelaufen kam.“ Unmittelbar vor dem Denkmal für den „Großen Vaterländischen Krieg“ – so die sowjetische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg – ist das passiert. Dieser Krieg ist das zentrale Narrativ in der Ideologie von Putins Russland. Und selbst hier, am Ortseingang von Irpin, fährt er noch seine blutige Ernte ein.

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