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#Michael Shtekel über die russischen Angriffe auf Odessa

Der Krieg, sagt man, nehme den Menschen die Zukunft. Was wohl jenen bevorsteht, die nicht wissen, ob sie am nächsten Morgen überhaupt noch erwachen. Die Raketenangriffe nehmen Odessa indessen die Vergangenheit. Begonnen haben sie am 18. Juli, in der Nacht, als das Getreideabkommen ausgelaufen war. Bei dem Beschuss haben die Russen zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Raketen eingesetzt, die sich kaum abfangen lassen, sowjetische Ch-22 – jede Rakete verfügt über ungefähr eine Tonne Sprengstoff.

Meine Frau und ich haben während einer dieser Nächte im Korridor gestanden, uns gegen die Wand gepresst und jede einzelne Explosion gezählt. Jede Rakete ein Einschlag, von manchen Detonationen hat die Erde gebebt. In dieser Nacht, am 20. Juli, hat Odessa die höchste Angriffsfrequenz seit Kriegsbeginn erlebt. Sie haben verschiedene Ziele in den Häfen im Großraum Odessa getroffen und wie immer auch etliche zivile Gebäude. Eins stand vis-à-vis der Schule, in die ich früher gegangen bin, gerade einmal 400 Meter vom Haus meiner Eltern entfernt. Die Rakete hat die oberen Stockwerke weggerissen, der 21-jährige Wachmann starb unter den Trümmern. Auch am 21. und 22. Juli gingen die Angriffe weiter, aber am schlimmsten war die Nacht des 23. Juli. Wieder gab es Explosionen, wieder hörten wir das Sirenengeheul der Notarztwagen, dann folgten klirrende Stille und Entwarnung. 19 Raketen wurden insgesamt auf das Gebiet Odessa abgefeuert, neun konnten abgefangen werden.

Am Morgen danach: Menschen mit Besen und Müllsäcken

Wir wussten bereits in der Nacht, wo die russischen Raketen eingeschlagen hatten. Fast unmittelbar nach dem Angriff wurde ein Video mit der brennenden Verklärungskathedrale auf Telegram gestellt – aufgenommen von Priestern.

Das zerstörte Haus der Wissenschaftler, der ehemalige Palast des Grafen Michail Tolstoi, in Odessa.


Das zerstörte Haus der Wissenschaftler, der ehemalige Palast des Grafen Michail Tolstoi, in Odessa.
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Bild: AFP

Im Herbst hatten bereits vereinzelt iranische Drohnen im Stadtzentrum von Odessa eingeschlagen. Doch im Juli hörten die Raketeneinschläge überhaupt nicht mehr auf, es war, als wollte man die Stadt in den Erdboden rammen. Die ganze Innenstadt wurde von Raketen „heimgesucht“. Eine flog in die Kathedrale und detonierte unterirdisch. Eine oder zwei weitere schlugen in Wohnhäusern und in der Grünanlage beim Schwanetzkij-Boulevard ein, eine dritte zerstörte ein historisches Gebäude, in dessen Keller das Theater „Teo“ logiert hatte, eine vierte traf einen Parkplatz 500 Meter von der Potemkin-Treppe entfernt.

Diese Raketen und Drohnen haben dem Gewebe meiner Vergangenheit Risse zugefügt. Meiner und der anderer Bewohnerinnen und Bewohner von Odessa. An der Verklärungskathedrale haben wir uns früher mit Freunden getroffen, und in der Grünanlage auf der Preobraschenska-Straße haben wir Bier trinkend unsere Vorlesungen geschwänzt.

Das Erste, was ich am Morgen darauf in der Innenstadt von Odessa gesehen habe, waren Menschen mit Besen und Müllsäcken. Der Hauptplatz der Stadt war übersät von Glasscherben und Steintrümmern, die beim Laufen unter den Füßen knirschten. Kleine Glassplitter steckten im Rasen. Dutzende Menschen waren an der Kathedrale mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Und Hunderte Odessiten fegten die Straßen ihrer Stadt. Am beschädigten Haus der Wissenschaftler, der ehemaligen Villa der Grafen Tolstoi, zum Beispiel. Die Druckwelle hatte die 150 Jahre alten wertvollen Glasfenster aus dem Rahmen gedrückt, in einigen Räumen des historischen Gebäudes waren die Decken eingestürzt. Ein 49 Jahre alter Mann, der in dieser Nacht das Haus bewacht hatte, kam ums Leben.

Getroffen wurden bei den Raketenangriffen nicht nur die Getreidelager am Hafen, denen die Angriffe wohl in erster Linie galten, sondern auch die Geschichte von Odessa. Die im Übrigen mit Getreide ihren Anfang nahm.

An den russisch-ukrainischen Krieg, der bereits 2014 begonnen hat, haben wir uns gewöhnt. An die Angriffe auf Odessa, die im Winter 2022 begonnen haben, werden wir uns gewöhnen, und die Zerstörung der Altstadt im Sommer 2023 werden wir bewältigen. Aber im kommenden Herbst, wenn das Gras welkt und die Glasscherben, die in der Schwarzerde glänzen wie Tränen, auf den Rasenflächen wieder zutage treten lässt, werden die Erinnerungen zurückkommen.

Aus dem Russischen von Claudia Dathe

Michael Shtekel ist Chefredakteur des „Media Center Ukraine – Odesa“.

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