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#Nachtbild kindlicher Unschuld

„Nachtbild kindlicher Unschuld“

So, wie die Maulende Myrte in den „Harry Potter“-Romanen ein innerhäusliches Feuchtgebiet mit nicht gerade appetitlichem Geruch bewohnt, lieben auch die Lemuren – Geister von Verstorbenen immerhin, ganz wie die Maulende Myrte – am Ende des zweiten Teils von Johann Wolfgang Goethes „Faust“ den „faulen Pfuhl“, den es ja schließlich „abzuzieh’n“ gilt. Und es gehört zu den beunruhigenden Zügen an Robert Schumanns Vorstellungskraft, dass er in seiner Vertonung der „Szenen aus Goethes Faust“ für die Lemuren verlangt: „Womöglich mit Knabenstimmen zu besetzen“.

Ausschließlich Knaben sind es nicht, die jetzt in Antwerpen die Lemuren singen, wenn der Dirigent Philippe Herreweghe gemeinsam mit dem Regisseur Julian Rosefeldt den Schumann’schen „Faust“ szenisch herausbringt, aber es ist schon der Kinderchor der Flandrischen Oper. Und der fahl-gläserne Klang der Mädchen- und Jungenstimmen wirkt absolut gespenstisch in diesem Kontext. Dazu plärrt die solistische Ventiltrompete aus dem Antwerpener Symphonieorchester heraus wie ein Truppenführer bei einer Parade von Kindersoldaten. Der Bariton Sam Carl mit seinem perfide eindringlichen, lockend manipulativen Timbre treibt als Mephisto die Lemuren zusammen. Was hat Schumann da bloß gesehen und gehört? Es ist ein Horrorbild des Kindlichen vom Meister der „Kinderszenen“ und des „Albums für die Jugend“, eine Antiidylle aus dem Panorama der Lebensalter: Hier wird mit Einflüsterung und Verführbarkeit – und Herreweghe begreift das mit zielsicherer Intelligenz – ein Nachtbild kindlicher Unschuld gemalt.

Durchlöcherte Monumentalität

Herreweghe ist am 2. Mai 75 Jahre alt geworden. Belgien feiert dieses Jubiläum zu Recht groß. Der „Faust“, noch bis 2. Juli in Antwerpen, dann vom 28. Oktober bis 4. November in Herreweghes Geburtsstadt Gent zu sehen, gehört zu diesem Fest dazu. Mit Schumann beschäftigt sich Herreweghe, als Bach-Interpret berühmt geworden, seit Langem. Und waren seine Aufnahmen der Schumann-Symphonien mit dem Orchester des Champs-Elysées vor anderthalb Jahrzehnten noch von der Faszination tausend kleiner Details in Artikulation und Dynamik geprägt, hört man jetzt eine stärkere Konzentration auf den „Ton“, den Charakter der Stücke.

„Star Wars“ revisited? „Faust-Szenen“ auf der Bühne


„Star Wars“ revisited? „Faust-Szenen“ auf der Bühne
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Bild: Annemie Augustijns

Der Orchesterklang ist durchsichtig für divergierende Verläufe im selben Moment, die zugleich für widersprüchliche Empfindungen stehen. Schon die Ouvertüre vermittelt – wie der Anfang des wenig später entstandenen Violinkonzerts – den Eindruck von Wucht, die bloße Behauptung bleibt und in sich zusammenfällt. Herreweghe kittet diese durchlöcherte Monumentalität nicht, denn gerade das Taumelnde und Zerrissene dieser Musik steht für die bezweifelbare Souveränität Fausts selbst, der oft mehr Gehandelter als Handelnder ist.

Yoga, Tai-Chi und weiche Drogen

Und auch in der ersten „Szene im Garten“, der Verführung Gretchens, wird der Zwölfachteltakt von Herrewe­ghe, ganz wie Schumann es verlangt, „nicht schnell“ genommen, sodass im Hellen eine Bangigkeit mitklingen kann. Das ist Schumanns paradoxer Ton: wehmütige Freudigkeit, traurige Euphorie. Später, beim Auftritt der „vier grauen Weiber“, kostet Herreweghe in der Kopplung von Piccoloflöte und Fagott jene Klangeffekte gruftiger Hohlheit aus, die Schumann Hector Berlioz abgelauscht haben dürfte, dessen Musik er attestiert hatte, einen Schwefelgestank zu hinterlassen.

Das Collegium Vocale Gent singt das Requiem im ersten Teil mit grausigem Lodern und den langen Chorus mysticus am Ende im zarten Halbdunkel einer Poesie der Andeutung, aber immer sorgsam atmend in Beachtung von Goethes Vers- und Satzbau.

Rafael Fingerlos, derzeit einer der aufstrebenden Baritone besonders im Lied, ist gesundheitlich leicht angegriffen und nimmt sich als Faust etwas zurück, wobei ihm dann viel gelingt: „Im farbigen Abglanz haben wir das Leben“ singt er leise und ahnungsvoll, mit Timbre gewordener Gleichnishaftigkeit, die Erkenntnis nicht zum Triumph übersteigert.

Eleanor Lyons hat als Gretchen einen silbrig strahlenden, kraftvollen, dabei immer lyrisch bleibenden Sopran. Zofia Hanna schafft es als Marthe in kurzen Augenblicken, die Verschlagenheit, eine Art klangfarbliche Komplizenschaft mit Mephisto auszugestalten. Der Tenor Ilker Arcayürek sorgt als Ariel inmitten der überwältigenden Sonnenaufgangsmusik für selige Momente des Schwebens.

Julian Rosefeldt als Videokünstler und Regisseur hat zusammen mit seiner Choreographin Femke Gyselinck, der Kostümbildnerin Birgitt Kilian und dem Bühnenbildner Sammy Van den Heuvel die „Faust-Szenen“ in einer Art Neo-Hippiekommune für Yoga, Tai-Chi und weiche Drogen angesiedelt. Die gymnastisch-spirituellen Selbstfindungsübungen werden auf einer Leinwand kontrastiert mit Filmen über Weltraummüll und die Erkundung außerirdischer Himmelskörper. Dabei erhält der außengeleitete faustische Forscherdrang ein fatales Endziel: interplanetarische Heimatlosigkeit und Verwüstung. „Fausts Verklärung“ hingegen führt zurück in eine selig bekiffte Waldkommune bei der Gruppeneurythmie. Die innengeleitete Forschung bringt somit Bühne und Leinwand zur Deckung: Immanenz und Transzendenz als bier-, musik- und haschischsatte Joint Reality.

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