Ist das neue Ritual eine gute Idee?

Wenn Johann Hinrich Wichern gewusst hätte, wohin sein Einfall führen würde, wer weiß, ob der Theologe damals in einem Kinderheim in Hamburg im Dezember 1839 diese Kerzen aufgestellt hätte – dicke für jeden der vier Adventssonntage und dünne für jeden anderen Tag. 24 insgesamt, als Zählhilfe bis Heiligabend. Damit stand einer der ersten Adventskalender für Kinder. In immer mehr Familien kamen solche selbst gemachten Kalender im 19. Jahrhundert auf, und 1903 ließ der Verleger Gerhard Lang schließlich den ersten Weihnachtskalender mit Christkind-Motiven in Serie drucken.
Warum die Anfänge des Adventskalenders jetzt Ende März ein Thema sind? Weil es sein kann, dass wir gerade die Anfänge des Osterkalenders erleben. Die wenigsten werden in der Familie auf die Idee kommen, so einen selbst zu machen. Es gibt ja schon genug zu tun in den Wochen vor Ostern. Ostereier bemalen, Osterlämmer backen, Osternester bestücken. Zugleich hält sich der Osterstress im Vergleich zum Weihnachtsstress in Grenzen. Auch das macht Ostern zu einem schönen Fest. Vom Ende her gedacht: In vielen Familienbiographien ist der Weihnachtsstreit ein Thema. In eher wenigen der Osterstreit.
Die Industrie ist trotzdem dabei, mit dem Kalender ein weiteres Ritual einzuführen. Wir sind zwar noch weit entfernt von der Adventskalender-Produktflut, aber die Produktvielfalt steht schon mal. Es gibt Kalender mit Schokolade und Süßkram, mit Ausmalbildern, mit Haut-Seren, je nachdem, was man sich gönnen mag.

Fastenzeit, könnte man da einwenden, ist wohl auch von gestern. Oder eben von Januar, wenn viele unabhängig vom christlichen Kalender einen Monat lang auf Alkohol oder Süßes verzichten.
Dabei kann man es auch anders sehen: Dass Türchen-Öffnen und Fasten nicht unbedingt im Widerspruch zueinanderstehen, zeigen die Ramadan-Kalender, die vor einigen Jahren aufkamen, als Weiterdreh des Adventskalender-Wahnsinns bei uns. Wenn Muslime von diesem Sonntag an das Zuckerfest feiern, sind alle dreißig Türen der Kalender geöffnet, ob nun vom industriell bereitgestellten oder selbst gebastelten. Für Kinder, deren Eltern einen Monat lang fasten und immer abends gemeinsam essen, kann so ein Ramadan-Kalender ein Ritual sein, um diese Zeit auch als etwas Besonderes zu verstehen. Nicht alles, was sich die Industrie einfallen lässt, ist also schlecht.
Und immerhin als Zählhilfe, ob zu Ostern oder Ramadan, dienen die Kalender eben auch. So wie es damals Johann Hinrich Wichern im Sinn hatte. Die Frage, wann Ostern ist, erübrigt sich damit.
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