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#In die Fremde

„In die Fremde“

Als ich im Flugzeug sitze, sind meine Nerven ganz flatterig. Die Vernunft ist zigarettenpapierdünn geworden, ist bloß noch der Hauch einer Schicht zwischen ruhigem Dasitzen, der reglosen Wahrnehmung des unerhörten Vorgangs unter mir (das Rattern der Räder, das Pumpen der Maschinen) und heilloser Panik, auf der ich davonreiten könnte statt auf Rädern und Flügeln. Das Flugzeug hebt ab, ich schlafe bald ein, und das Flugzeug landet wieder. Die Vernunftmembranschicht ist ein bisschen stabiler geworden, ich steige aus und bin in einem fremden Land.

Ich war nie die große Abenteurerin. Warum Menschen mit ihren Laptops nach Vietnam oder Sri Lanka fahren, um dort dann doch nur an ihrem Laptop zu sitzen und zwischendurch mit Wasserschlangen zu baden oder Yoga vorm Sonnenuntergang zu machen, will mir nicht recht einleuchten. Im Gegenteil, „Remote-Arbeiten“ am Strand oder Sabbaticals im Dschungel erschienen mir stets etwas dekadent. Ich komme aus dem Emsland, saß zum ersten Mal mit 13 Jahren in einem Flugzeug und dann wieder viele Jahre nicht, habe den europäischen Kontinent erst einmal verlassen und fahre am liebsten an die Nordsee, die ich kenne, seit ich ein kleines Kind war, das sich furchtlos in alle Wellen stürzte.

So furchtlos bin ich heute nicht mehr. Reisen gab es trotzdem immer wieder, und jedes Mal, wenn ich Städte wie Rom oder Budapest, Barcelona oder Wien kennenlernte, habe ich es geliebt. Ich habe die fremden Gerüche und das Rauschen der Städte, jedes für sich genommen ein bisschen anders, das gute Essen und das leichte Leben geliebt. Ich habe fremden Sprachen gelauscht oder deutschen Touristen zugehört, die sich peinlich laut in meiner eigenen Sprache unterhielten, und in mich hineingegrinst. Ich habe monumentale Kirchen besichtigt und verwinkelte Gassen erkundet, ich habe das Flair der Fremde aufgesogen wie ein Schwamm und war glücklich.

Mir fehlte, so dachte ich, nichts

Und trotzdem: Als die Corona-Pandemie sich einstellte und wir zu Hause blieben, habe ich nichts vermisst, im Gegenteil. Ich war froh, gesund zu sein und mich einzuigeln, abends Nudeln zu essen und gemütlich auf dem Sofa zu kuscheln. Mehr, dachte ich über viele Monate hinweg, brauche ich auch gar nicht im Leben. Ein bisschen Sonne auf dem Balkon oder im Park, Unterhaltungen mit Freunden und Familie, ein paar Spaziergänge, gute Pastagerichte, einen Netflix-Account und ein ordentlich ausgestattetes Bücherregal. „Du bist eigentlich eine richtige Stubenhockerin“, stellte ein Freund erstaunt fest, erstaunt auch deswegen, weil ich ohne Pandemie meist viel unterwegs war, alles mitgemacht und mitgenommen habe und ein geselliger Mensch bin. Zu Dienstreisen sage ich nie, nie, nie Nein, zu anderen Trips erst recht nicht. Und doch waren die ersten Monate daheim auf dem Sofa für mich ziemlich in Ordnung. Mir fehlte, so dachte ich, nichts.

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Wie mir ging es vielen. Uns geht’s ja noch gut, dachten wir, solange wir verschont blieben vom Virus und seinen Folgen, solange wir einen Job hatten und im Sommer sogar ans Meer konnten. Die Instagram-Timelines wurden plötzlich vollgespült mit glücklichen Menschen, die im Schwarzwald oder in Bayern Urlaub machten, die an Nord- und Ostsee fuhren und dort so instagramfähige Avocadobrote und Hafersmoothies vorfanden wie in London oder Berlin. Ich muss hier nicht weg, zumindest nicht weit, das dachte und denke ich oft, ich hab‘ ja wohl noch meinen Geist und die Bücher, die ihn gefälligst in andere Welten und Länder entführen, und die Filme, die ihn ablenken von einer Corona-Realität, und die Musik, die ihm das Gefühl von Freiheit gibt.

Nach New York, im Ernst?

Und dann eine Dienstreise, ausgerechnet nach New York, das kann doch nicht mein Ernst sein? Ich setze mich gegen jedes schlechte Gefühl in das Flugzeug und jette in die Ferne, als hätte ich nicht die vergangenen sechs Monate damit verbracht, an einem 1000-Teile-Puzzle mit Harry-Potter-Charakteren zu scheitern und mir unseren Park um die Ecke doch noch mal von einer anderen Seite anzugucken.

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