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#Philosoph Ernst Tugendhat gestorben

„Philosoph Ernst Tugendhat gestorben“

Der Philosoph kauert klagend und nackt auf dem Flur der Pension. Aus dem verriegelten Zimmer hat ihn eine Person hinausgesetzt, deren Namen er nicht weiß. Sie will schlafen. Andere Bewohner werden wach und erzählen es weiter. Eine Berliner Anekdote. Das Bemühen des Philosophen um durchsichtiges Denken spiegelt sich im Leben, doch ihm war alles Anekdotische zuwider. Ernst Tugendhat ist vorgestern in Freiburg gestorben. Auch wer ihn in Berlin auf das Haus seiner Kindheit in Brünn ansprach, dem begegnete er un­wirsch. Die gläsernen Wände des Hauses seiner Mutter Grete Tugendhat (1903 bis 1970) mochte er nicht als Vorzeichen der Durchsichtigkeit seines Denkens gelten lassen.

Letzteres schreibt der Anthropologe Mi­chael Lambek in „Behind the Glass“ (To­ronto 2022), dem Buch über die Familie seiner Mutter, der älteren Halbschwester von Ernst Tugendhat. Sein aufschlussreiches Bild des Onkels stützt er insbesondere auf dessen Briefwechsel mit Heidegger im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, aber auch auf Gespräche mit Freunden und Angehörigen. In dieses Bild gehört auch die Art und Weise, wie Tugendhat in Berlin nach dem Tod der Mutter versucht zu haben scheint, die im frühen Studium versäumte Pubertät nachzuholen. Lambek verfolgt seine Achterbahnfahrt von La­teinamerika nach Deutschland und zurück und hält dabei zur Philosophie so viel Abstand wie zur Mathematik seines Vaters Jonathan Lambek.

Vor den Nationalsozialisten geflohen

Das Wohnen in ihrem Haus in Brünn hat Grete Tugendhat als schöpferische Vollendung von dessen Architektur be­trachtet. Bei einer ihrer Töchter, der Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, geboren 1946, vier Jahre vor ih­rem Neffen Michael Lambek, setzt sich diese Haltung fort. In der Nachfolge ihrer Mutter trat Daniela Hammer-Tugendhat auch die des Architekten an, Mies van der Rohes, dem Grete Tugendhat den Bau seines Meisterwerks ermöglicht hatte. Von Mies van der Rohes Anspruch auf Wahrheit im Bauen sagt sie zu Recht, dass ihre Mutter ihn auf Heideggers Denken habe beziehen müssen, das ihr schon vor der Veröffentlichung von „Sein und Zeit“ 1927 in Mitschriften seiner Vorlesungen zu­gänglich war. Mies van der Rohe war wie Heidegger katholisch; auch das verbindet den Architekten mit seiner Auftraggeberin, denn katholisch war auch das Umfeld von Grete Tugendhat, Grete Weiss oder Grete Löw-Beer in Brünn. Gesellschaftliche Berührung mit Katholiken gab es zwar kaum, aber die Familie feierte Weihnachten. Jüdische Feste beging sie nicht.

In dem Gemeinschaftswerk von Daniela Hammer-Tugendhat mit Ivo Hammer und Wolf Tegethoff über das Haus Tugendhat (dritte Auflage, Basel 2022; zuerst 1998) finden sich Bilder aus dem Familienalbum, vor allem Kinderbilder von Ernst Tugendhat, seinem Bruder Herbert und der älteren Halbschwester Hannah, der Mutter von Michael Lambek. Diese Bilder machen den Alltag im Haus durchsichtig. So lang, wie seine Mutter ihr Haus in Brünn besaß, dauerte Ernst Tugendhats Kindheit. Er wurde 1930 geboren. Als er acht Jahre alt ist, 1938, muss die Familie von Brünn in die Schweiz beziehungsweise nach England fliehen. Die Nationalsozialisten bringen Großvater, Tante, Cousine und andere Mitglieder der Familie um. Die Familie spricht nicht darüber.

Abkehr von den Lehrmeistern

Michael Lambek beschreibt den Hintergrund der gemeinsamen Heideggerlektüre von Mutter und Sohn im Jahr 1945/46. Grete Tugendhat gehörte wie ihre Schwägerin Helene Weiss und die gemeinsame Freundin Käte Victorius zu den Frauen, die Heidegger uneingeschränkt bewunderten. Die Bewunderung überlebte; ein wechselseitig fürsorglicher Briefwechsel setzte sich fort; auch Ernst Tugendhat schickte 1947 Carepakete. 1941 war seine Familie nach Venezuela ausgewandert. Das ist die prägende Jugenderfahrung, auf die Ernst Tugendhat immer wieder zu­rückkam. Spätestens seit 1946, als er mit sechzehn Jahren zum Studium in die Vereinigten Staaten ging, lebte er unbehaust und unverborgen, wie auf der Flucht vor einer lebensgefährlichen Behaustheit.

Aber solche Aussagen gingen ihm selbst wohl viel zu weit. Von den Lehrmeistern seiner Mutter, Mies van der Rohe und Heidegger, kehrte er sich so gründlich ab, wie dies nur möglich ist. Anders als bei Helene Weiss und Käte Victorius gab es ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Heidegger nicht, auch wenn dieser ihm 1949 vom Philosophiestudium in Amerika abriet. Die Bloßstellung eigener Irrtümer erwies sich nach und nach als der am besten geeignete Weg, Abstand zu Heidegger zu gewinnen und schließlich über ihn nur noch schweigen zu können. Am weitesten geht Ernst Tugendhat damit im Vorwort seines letzten Buches, „Anthropologie statt Metaphysik“ (2006), das Pflichtlektüre nicht nur im Philosophiestudium sein sollte.

Das heißt nicht, dass Tugendhat jeden seiner Irrtümer erkannt hätte, aber so ausdrücklich, wie er auf ihr Vorhandensein hinweist, ermuntert er auch dazu, selbst welche zu finden. Ein solcher Irrtum könnte etwa sein, dass das Wollen der Menschen auf Zukunft gerichtet sei. Gerade für Religion und Mystik lässt sich viel eher eine Ausrichtung auf das schlechthin Vergangene beweisen.

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