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#Quellenangabe bitte nicht immer erwarten

Der Soziologe und Philosoph Karl Mannheim gehört zu jenen Denkern, von denen der Historiker Reinhart Koselleck Anleihen für entscheidende Begriffsprägungen ge­macht hat, so für den Zusammenhang von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, den Koselleck in ein „metahistorisches“ Modell übertrug, wie jüngst von Ulrike Jureit in ihrem Buch „Erinnern als Überschritt“ nachgezeichnet (F.A.Z. vom 22. April) hat. Beide Begriffe hielt Koselleck demnach für geeignet, um das Thema der historischen Zeit zu fassen, denn in der „Gegenwärtigkeit von Erfahrung und Erwartung“ verschränkten sich Vergangenheit und Zu­kunft.

Frappierend ist die nachgerade ge­tarnte, jedenfalls ohne einschlägige Quellenangabe erfolgte Übernahme der Mannheimschen Begriffe in Kosellecks Aufsatz „,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungsraum‘ – zwei historische Begriffe“, einem seiner bekanntesten Aufsätze aus dem Jahr 1976. Erfahrungsraum ist eine Begriffsprägung aus Mannheims Aufsatz „Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit“ (etwa 1922), Erwartungshorizont entstammt Mannheims Schrift „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ (1935). Zu der letztgenannten Publikation heißt es bei Ulrike Jureit: „Kosellecks Exem­plar in der deutschen Ausgabe von 1958 im DLA Marbach weist umfangreiche Lesespuren auf, er hat das Buch offensichtlich durchgearbeitet. Der Begriff Er­wartungshorizont wurde im Text markiert und hinten mit der entsprechenden Seitenzahl herausgeschrieben. Es befinden sich weitere Notizzettel mit handschriftlichen Vermerken im Buch sowie unter der Signatur 1917 diverse Einlagen, u. a. Zeitungsartikel zu Mannheims 100. Geburtstag.“

Trotz derart systematischer Lektüre Mannheims lässt Koselleck die Herkunft der beiden Leitbegriffe schon im Titel des besagten Aufsatzes elegant unter den Tisch fallen. Elegant deshalb, weil es nicht etwa verstohlen geschieht, sondern offensiv-programmatisch gegen den Methodenzwang, als eine bewusste Auslassung aus höherer Notwendigkeit. Koselleck, der am 23. April hundert Jahre alt geworden wäre, formuliert es in seinem Aufsatz so: „Wenn im folgenden über Erfahrungsraum und Erwartungshorizont als historische Kategorien gesprochen wird, so sei gleich vorausgeschickt, dass die beiden Ausdrücke nicht selber als Be­griffe der Quellensprache untersucht wer­den. Es wird sogar bewusst darauf verzichtet, die Herkunft dieser Ausdrücke geschichtlich abzuleiten, gleichsam gegen den methodischen Anspruch handelnd, dem sich ein professioneller Be­griffshistoriker unterwerfen sollte.“

Ein Schuss Paul Feyerabend beim professionellen, also streng quellenkritisch arbeitenden Begriffshistoriker? Koselleck rechtfertigt die Abweichung von der Regel mit einem methodologischen Ausnahmezustand, über den zu entscheiden er sich mit den Worten gerechtfertigt sieht: Es gebe nun einmal „Forschungssituationen, in denen das Absehen von historisch-genetischen Fragen den Blick auf die Geschichte selber schärfen kann“. Bei diesem grundsätzlichen Aufweis von erlaubter Quellenkaschierung werden in der ersten Stufe die Begriffe, um die es geht (Erfahrungsraum und Erwartungshorizont) schon gar nicht mehr genannt, sie werden selbst unsichtbar und damit auch ihre Quellenfrage.

Ein Verfahren, das sich in der zweiten Stufe fortsetzt, wenn es beinahe bombastisch heißt: „Vorerst“ werde aus systematischen Überlegungen auf eine Historisierung der eigenen Position verzichtet. Bei der Verheißung „vorerst“ (wird die Quellenangabe also gleich nachgereicht?) bleibt es auch im weiteren Verlauf des Aufsatzes.

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