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#So aktuell kann ein historischer Roman sein

So aktuell kann ein historischer Roman sein

Es hatte gedauert, bis der Krieg die Insel erreichte. Dabei stand sie schon lange im Krieg: mit hinein­gezogen durch das „Mutterland“ Japan, aber dessen Siegeszug im Pazifikkrieg hatte 1942 noch gar keinen Gedanken daran aufkommen lassen, dass jemals der Angriff eines feindlichen Flugzeugs zu befürchten wäre. „Ein Jahr später schwelten Feuer auf den Hügeln, Soldaten hatten sie gelegt, um feindliche Bomber irre­zuführen und die Eingänge der Schächte zu tarnen. Letzten Sommer waren in der Zeitung die Bewohner einer Insel namens Saipan dafür gefeiert worden, dass sie sich von den Klippen stürzten oder mit Granaten in die Luft sprengten. Anfangs hatte sich Umeko den Krieg wie einen Drachen vorgestellt, der mit seinen gewaltigen Füßen und dem wild herumpeitschenden Schwanz alles zerstörte, inzwischen besuchte sie die sechste Klasse der Grundschule und wusste, warum man dem Feind nicht lebend in die Hände fallen durfte: Alle Männer wurden kastriert und die Frauen vergewaltigt.“

Wir sind in Taiwan, 1943 und am Beginn des zweiten Viertels von Stephan Thomes Roman „Pflaumenregen“. Umeko ist dessen wichtigste Figur, ein Schulmädchen von der Nordküste der seit 1895 durch Japan kolonisierten Insel. Wir werden im Wechsel zwischen Kinder- und Jugendzeit sowie der jüngeren Gegenwart ihr langes Leben erzählt bekommen: bis zum Sommer 2016, als sie 82 Jahre alt und längst wieder Hsiao Mei gerufen wird, weil ihr japanischer Vorname nach der Nieder­lage und dem Abzug der früheren Kolonialherren in Taiwan nicht mehr opportun war.

Fernöstliches Denken subtil literarisieren

Die Insel war 1945 wieder China zugeschlagen worden, das sie fünfzig Jahre früher an Japan hatte abtreten müssen, und prompt wurde die bisherige Japonisierung Taiwans durch eine ebenso radikale Sinisierung ersetzt, die ähnlich wenig Rücksicht auf die Bewohner nahm. Dazu setzte noch eine Massenimmigration ein, als die Niederlage der Republik China gegen Maos kommunistische Rebellen absehbar wurde: Nicht nur der chinesische Präsident Chiang Kai-shek setzte sich nach Taiwan ab, sondern mit und nach ihm Millionen seiner Anhänger. Taiwan wurde so zum Residuum der alten Republik, für dessen Eroberung die Kräfte der jungen kommunistischen Volks­republik nicht ausreichten, weil die Vereinigten Staaten den Bestand von ­Chiangs Insel­regime garantierten. Das ist der Ursprung eines der heikelsten Konflikte unserer Zeit: Heute, ein Dreivierteljahrhundert danach, testen chinesische Flugzeuge vom Festland durch bewusste Verletzung des taiwanischen Luftraums die Verteidigungsbereitschaft der von Peking als abtrünnig betrachteten Insel. Dabei hat sie nie zur Volksrepublik gehört. Aber über­leben ohne Schutz der Amerikaner könnte Taiwan nicht.

Stephan Thome: „Pflaumenregen“. Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.

526 S., geb., 25,– €.


Stephan Thome: „Pflaumenregen“. Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.

526 S., geb., 25,– €.
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Bild: Verlag

Man kann sich keinen politisch aktuelleren Roman vorstellen als „Pflaumen­regen“, obwohl Stephan Thome beim Schreiben nichts davon wissen konnte, dass just zum Erscheinen seines Buchs die chinesischen Provokationen noch einmal eskalieren würden. Aber Thome kannte die bisherigen; er lebt seit Jahren in Taiwan, spricht fließend Chinesisch, ist mit einer Taiwanerin verheiratet und betrachtet das Land als seine zweite Heimat. Was für ein Heimatkundler dieser Autor ist, wissen wir seit seinem Debütroman „Grenzgang“ von 2009, den er bereits in Taiwan schrieb, der aber in Thomes mittelhessischer Geburtsstadt Biedenkopf an­gesiedelt ist. In seine neue Lebenswelt begab er sich dann 2018 mit dem im kaiserlichen China des neunzehnten Jahrhunderts spielenden historischen Roman „Gott der Barbaren“. Da zeigte er, wie subtil er fernöstliches Denken literarisieren kann. Aber noch gab es dabei einen deutschen Protagonisten. In „Pflaumen­regen“ sind nun alle wichtigen Figuren Taiwaner.

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