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#Reibsteine dokumentieren bäuerliche Zeitvorstellungen in Europa

In Sachsen-Anhalt und Thüringen haben Archäologen mehrere Reibsteine aus der Jungsteinzeit gefunden. Diese rund 7000 Jahre alten Mahlwerkzeuge wurden offenbar einst von den frühen Bauernkulturen dieser Gegend im Rahmen von Ritualen und Festen in Gruben deponiert. Was sie symbolisieren, war jedoch bislang unklar. Jetzt geben genauere Analysen von drei solcher Reibstein-Deponien neue Einblicke darin, unter welchen Umständen die Werkzeuge rituell begraben worden sein könnten und welche Bedeutung sie für die frühen Bauern hatten.

Ab etwa 5500 vor Christus, in der Jungsteinzeit, siedelten sich die ersten Bauern in Mitteleuropa an. Die Menschen der Linearbandkeramik und der folgenden Stichbandkeramik wanderten damals aus Transdanubien im heutigen Ungarn ein. Statt durch Jagen und Sammeln produzierten sie erstmals ihre Nahrung selbst, durch Viehzucht und Ackerbau. Zu ihren wichtigsten Gerätschaften gehörten dabei sogenannte Reibsteine. Diese Werkzeuge ermöglichten es, Getreide effizient zu Mehl zu verarbeiten und damit für eine planbare Ernährung samt Vorratshaltung nutzbar zu machen. Reibsteine bestanden aus zwei Teilen: einer massiven Reibplatte als Unterlieger und einem zweiten, etwa fußballgroßen Stein als Läufer, mit dem darauf von Hand das Getreide gerieben wurde.

Dass diese Mahlsteine für die jungsteinzeitlichen Bauern wichtig waren, belegen auch Niederlegungen dieser Geräte im Rahmen von Ritualen und Festen. Dabei wurden diese Steine symbolisch begraben. Die Reibsteine hatten wahrscheinlich einen Bezug zum Rhythmus von Anbau und Ernte, Tag und Nacht, sowie Fruchtbarkeit, wie frühere Studien nahelegen. Entsprechende Deponien wurden bislang vor allem in Frankreich und Belgien gefunden. In den letzten Jahren wurden erstmals auch Niederlegungen von Reibsteinen in Mitteldeutschland entdeckt.

Foto eines Unterliegers aus der Deponierung in Sömmerda
Unterlieger aus der ersten Werkzeugschicht der Reibsteinniederlegung in Sömmerda. © S. Schneider, TLDA.

Reibsteine aus Deutschland untersucht

Drei dieser Funde haben nun Forschende um Erik Zamzow von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg näher untersucht. Sie wollten anhand von Aussehen und Anordnung der Steinwerkzeuge herausfinden, welche Bedeutung die Reibsteindeponien für die damaligen Bauern hatten und was sich daraus über deren Leben ablesen lässt. In zwei Fällen lagen die Steine im Umfeld der Kreisgrabenanlage von Goseck in Sachsen-Anhalt. Diese Anlage gilt als eines der frühesten Sonnenobservatorien. Der erste Fund umfasst zwei Unterlieger-Platten aus einer Grube in einem Langhaus, das zwischen 5200 und 5000 vor Christus erbaut wurde. Diese Reibsteinkomponenten stammen aus der Zeit der Linearbandkeramik und sind damit älter als das Sonnenobservatorium, das ab 4900 vor Christus errichtet wurde.

Der zweite Reibstein-Fund – drei Platten und zwei Läufer – wurde hingegen zwischen 4795 und 4696 vor Christus zusammen mit den Knochen einer Frau mittleren Alters in einer Grube niedergelegt, wie Radiokarbondatierungen ergaben. Diese Deponierung erfolgte damit zeitgleich zum Bau des Observatoriums in der Stichbandkeramik-Kultur, berichtet das Team. Eine drittes Set aus Reibsteinen wurde in zwei Schichten in Sömmerda im heutigen Thüringen entdeckt, ebenfalls in einer Grube in der Nähe eines linearbandkeramischen Hauses.

Foto zweier Reibstein-Paare aus Sömmerda und Goseck
Zusammengehörige Paare von Unterlieger und Läufer, links aus einer Deponierung in Sömmerda, rechts aus Goseck. © J. Soldevilla, LDA.

Grad der Abnutzung verrät Zeitvorstellung der Bäuerinnen

Alle in Deutschland entdeckten Reibsteine waren sorgfältig geformt und gepflegt, paarweise arrangiert niedergelegt und von Osten nach Westen ausgerichtet. Zudem waren alle Steine benutzt worden und durch die harte Arbeit abgenutzt, wie die Analysen ergaben. Das spricht gegen eine Aufbewahrung der Mahlwerkzeuge für einen späteren Einsatz und für eine rituelle Niederlegung, erklären Zamzow und seine Kollegen. „Die überlieferte Form jedes Reibsteins ist das Ergebnis täglicher Arbeit über Jahre und Jahrzehnte hinweg“, erklärt Seniorautor Roberto Risch von der Autonomen Universität Barcelona. Da die als Set zusammen niedergelegten Steine jedoch stets unterschiedlich stark abgenutzt waren, vermutet das Team, dass die Reibsteine einen zeitlichen Zyklus und unterschiedliche Generationen einer Gruppe symbolisieren könnten. Die Spanne von Herstellung bis Nutzungsende eines Steines könnte etwa eine Allegorie auf die Zeitspanne zwischen Leben und Tod sein.

„Die Ergebnisse der Studie veranlassen uns zu der Annahme, dass der Kerngedanke hinter den Deponierungen der Werkzeuge die Zeit ist, die in den unterschiedlichen Stadien ihrer ‚Biografie‘ zum Ausdruck kommt“, so Zamzow. „Die Reibsteine wurden überwiegend von Frauen benutzt. Es könnten sich damit Bezüge zu Zyklen von Geburt, Leben und Tod in den Deponierungen andeuten.“ Somit zeugen die Steine von der komplexen Zeitvorstellung der jungsteinzeitlichen Bäuerinnen, die über den Rhythmus der jährlichen Ernten hinausgeht, schließen die Forschenden. Neben täglichen und saisonalen Zeitspannen stehen sie vor allem für den Lebensweg der Frau. Folgestudien zu Reibsteinen aus anderen Fundstellen in Europa sollen diese Interpretation nun überprüfen.

Quelle: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (LDA) – Landesmuseum für Vorgeschichte, Autonome Universität Barcelona; Fachartikel: Journal of Archaeological Science: Reports, doi: 10.1016/j.jasrep.2025.104998

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