#Sonne im Gesicht, Sand in der Tastatur: Warum ich keine digitale Nomadin mehr sein möchte
Inhaltsverzeichnis
Nicht nur die Sonne blendet, sondern auch die Erwartungen an das Leben als digitale*r Nomad*in.
Deinen Job kannst du doch von überall machen, haben sie gesagt. Verbinde Reisen und Arbeiten, haben sie gesagt. Sei eine Digitale Nomadin, haben sie gesagt. Keine Ahnung hatten sie. So viel steht fest. Dabei klingt die Sache doch mindestens so simpel wie verlockend. Alles, was man für das Leben als digitale*r Nomad*in braucht, sind Laptop, Badelatschen und eine stabile Internetverbindung. Und die ist bekanntlich überall besser als in weiten Teilen Deutschlands. Warum also nicht nach Bali jetten, ein paar Stunden am Tag in die Tasten hauen, zwischendurch die Wellen meines Lebens surfen und die abgedroschenste Reiseweisheit überhaupt wahr machen, und zwar wortwörtlich: Travel is the only thing that makes you richer. Ja, warum eigentlich nicht? Ich sag’s euch: Weil nicht nur die Sonne blendet, sondern auch die Erwartungen an das Leben als digitale*r Nomad*in.
Ein wirklich mieser Kompromiss
So zumindest habe ich es erlebt – und zwar in verschiedensten Konstellationen. Als Angestellte, die immer wieder einige Wochen in Portugal verbringt, als Selbstständige, die einen ganzen Winter auf einer Berghütte lebt und in Mittelamerika häufiger Steckdosen als Sehenswürdigkeiten sucht. Jedes Zugabteil, jeder Wartebereich im Flughafen, jedes Hostelbett wird zum potentiellen Arbeitsplatz. Irgendwann bin ich nirgends mehr sicher – nichtmal in den entlegensten Winkeln der Erde – und aus dem Versprechen, überall arbeiten zu können, wird recht schnell die Drohung, wirklich überall arbeiten zu müssen. Auch wenn es mir häufig erst nach im Nachhinein bewusst wird: Für mich ist die zwanghafte Kombination von Reisen und Arbeiten nichts anderes als ein wirklich mieser Kompromiss.
Aus dem Versprechen, überall arbeiten zu können, wird recht schnell die Drohung, wirklich überall arbeiten zu müssen.
Während sich die Leute um mich herum in der Sonne fläzen, großartige Wellen surfen oder sich bei Neuschnee auf den Weg zu zuckerweißen Gipfeln machen, muss ich doch noch schnell den Artikel fertig tippen, die Deadline einhalten, den nächsten Auftrag an Land ziehen und ausrechnen, dass ich dank Zeitverschiebung schon wieder um 6 Uhr morgens in den Call muss. Zuhause wäre das meiste davon der ganz normale Wahnsinn, den ich beim Feierabendbierchen mit Freund*innen bespreche und ziemlich schnell wieder vergesse. Aber hier, im vermeintlichen Paradies, fühlt es sich falsch an, sich zu beschweren. Bei wem auch? Im Gegensatz zu ursprünglicher nomadischer Kultur, ist die moderne Version davon eher selten von echter Gemeinschaft geprägt. Wie soll sie auch entstehen, wenn man häufiger seinen Standort als seine Unterhosen wechselt.
Hier, im vermeintlichen Paradies, fühlt es sich falsch an, sich zu beschweren.
Als digitale Nomadin fühle ich mich häufig wie ein Fremdkörper. Ich bin nicht im Urlaub, aber auch nicht zu Hause. Als lupenreine Touristin ist das anders. Da weiß ich, was ich zu tun habe: Beobachten, entdecken, staunen, lernen, genießen, Geld ausgeben und mich am Ende bedanken, dass ich Gast sein durfte in vielen schönen Ländern. Aber hey, ich habe mir das ausgesucht. Frankensteins Monster aus Arbeiten und Reisen. Ich bin frei, ich bin unabhängig, ich bin selbstbestimmt. Zumindest nach dem letzten Call um 18.35 Uhr.
Schattenseiten in der prallen Sonne
Und so kollidieren meine Vorstellungen mit der Realität wie die Moskitos mit der Fensterscheibe. Anstatt meine geistigen, körperlichen und zeitlichen Kapazitäten dafür zu nutzen, meine Umgebung zu erkunden, Menschen kennenzulernen (also die echten, nicht noch mehr von meiner Sorte) oder einfach nur mein Hautkrebsrisiko zu erhöhen, mache ich alles wie zuhause, nur woanders. Wozu das führt? Meine Arbeit geht mir an der portugiesischen Küste, in den Tiroler Bergen und dem Dschungel von Costa Rica viel häufiger auf den Sack als in der Heimat – und zwar gewaltig. Umgeben von Palmen, Berggipfeln und gut gelaunten Tourist*innen traue ich mich aber nicht, diese Tatsache laut auszusprechen.
Wenn mich die Fremde überfordert, gehe ich gerne zu Lidl in Hongkong
Als ich es irgendwann doch tue, bin ich erstaunt, wie viel Zustimmung ich bekomme. Freund*innen berichten mir von ihrem Struggle und ich lese Artikel zu den Schattenseiten des digitalen Nomadentums. Dabei geht es nicht nur um individuelle Schwierigkeiten wie Einsamkeit, Leistungs- und Spaßdruck, sondern auch um gesamtgesellschaftliche Probleme. Gutverdienende Menschen, die ganze Orte überfluten, den Mietmarkt korrumpieren und am Ende ihre Steuern anderswo zahlen. Ich lese Begriffe wie Neokolonialismus und Parallelgesellschaft und auch wenn sie auf den ersten Blick überspitzt klingen, finde ich sie nicht abwegig. Wenn mich die Fremde überfordert, geh ich gerne zu Lidl in Hongkong.
Ich kann von überall nicht arbeiten
Schlussendlich muss ich an eine Piñata denken. Von außen bunt, vergnügt und verlockend. Haut man aber ordentlich drauf, fallen keine Süßigkeiten und auch keine großartigen Reiseerlebnisse heraus, sondern Anträge auf Auslandskrankenversicherungen, modrige Hostelbetten, die immer gleichen Dialoge mit anderen digitalen Nomad*innen und ungeöffnete Post vom Finanzamt, die daheim den Briefkasten verstopfen.
Wenn ich doch jemals wieder im Ausland arbeite, dann höchstens in einer Strandbar.
Und noch bevor ich vor lauter Jammerei die erste Träne im weißen Sandstrand versenken kann, fasse ich einen Entschluss. Aus „Ich kann von überall arbeiten“ wird kurzerhand „Ich kann von überall nicht arbeiten“. Vergiss die Kompromisse. Ab jetzt gehe ich einfach wieder auf Reisen. Oder noch besser: Mache stinknormalen Urlaub. Gerne wochenlang und ohne Plan. An Orten, die ich erleben, sehen, schmecken, fühlen will und die nicht nur als Kulisse und lebensgroßer Laptop-Hintergrund dienen. Am besten so lange, bis ich wieder Alltag von der Abwechslung brauche. Und wenn ich doch jemals wieder im Ausland arbeite, dann höchstens in einer Strandbar.
Leben als digitale Nomaden
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