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#Es sollte mehr Lehrer geben wie diesen

Es sollte mehr Lehrer geben wie diesen

Stadtallendorf ist Provinz. Es liegt recht idyllisch im mittelhessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf und hat etwa 21.000 Einwohner in fünf Stadtteilen plus einer Kernstadt mit viel Fachwerk. Im Jahr 1938 wurde aus dem Bauerndorf eine der größten europäischen Produktionsstätten für Sprengstoff mit mehr als 15.000 Zwangsarbeitern. Heute ist Stadtallendorf eine Kleinstadt mit mehreren großen Fabriken und vielen Einwanderern. Hier gibt es Arbeit, bei der Eisengießerei und bei Ferrero, mehr Arbeit als in der Türkei, in Bulgarien oder in Marokko. Es gibt mehrere Kirchen und eine Moschee. Und es gibt die Georg-Büchner-Gesamtschule.

Über mehrere Monate hinweg beobachtet die Regisseurin Maria Speth die Klasse 6b mit ihren Schülern aus neun Nationen, deren Eltern im Laufe der letzten dreißig Jahre nach Mittelhessen kamen. Einige sprechen von Geburt an Deutsch, einige haben es in der Schule gelernt. Wieder andere sind eben erst angekommen und müssen feststellen, dass ihr sprachliches Ausdrucksvermögen noch weit hinter ihrem Mitteilungsdrang zurückbleibt, was für alle Beteiligten frustrierend sein kann. In diesem sechsten Schuljahr werden die Weichen gestellt, in Richtung Gymnasium, in Richtung Real- oder Hauptschulzweig. Es ist also ein entscheidendes Jahr für die Schullaufbahn, und Schulen nehmen wenig Rücksicht auf familiäre Einwanderungsbiographien. Schulen quantifizieren Leistungen in Noten.

Und es ist das letzte Jahr von Klassenlehrer Dieter Bachmann, Lehrer für Mathematik, Deutsch, Musik und alles, was sonst wichtig ist im Leben. Dieter Bachmann ist Quereinsteiger, Altachtundsechziger, Künstler in vielen Disziplinen und vielleicht einer, den manche abschätzig als Gutmensch bezeichnen würden. Lehrer wurde er vor siebzehn Jahren aus Zufall, weil Geld ins Haus musste. Zum Glück, muss man sagen, es sollten viel mehr Zufälle dieser Art passieren, denn es sollte viel mehr Lehrer wie Herrn Bachmann geben.

Teil der Lokalgeschichte

Dreieinhalb Stunden lang schaut man ihm dabei zu, wie er mit seinen Schülern diskutiert, Dinge umformuliert, bis es jeder verstanden hat, wie er ihnen Fragen stellt, sie fordert, enttäuscht ist. Oft singen die Schüler oder machen Musik. In der Klasse gibt es Schlagzeuge und Gitarren und das eine oder andere versteckte Talent. Manchmal ist es gerade wichtiger, Regina zu trösten, deren Großvater in Russland gestorben ist, als Akkusativobjekte zu üben. Manchmal muss man darüber sprechen, wie man sich das spätere Leben vorstellt, ob Hasan Boxer oder Friseur werden soll oder beides oder ob man heiraten will – der großen Liebe wegen wie Stefanie – oder um Himmels willen bloß nicht und lieber arbeiten will wie Rabia. Und darüber, dass auch Anastasia nicht immer nur die Beste sein muss und auch anderen den Erfolg gönnen kann.

In Herrn Bachmanns Klasse geht es auch, aber nicht nur um Leistung. Er schafft vor allem einen Raum, in dem jeder offen reden kann, seine Meinung sagen kann und lernt, wie man das tut, ohne andere zu verletzen. Es geht darum, zu erkennen, was jeder beitragen kann. Ja, Herr Bachmanns Klasse ist in diesem Sinn ein utopischer Raum, der eine ideale, rücksichtsvollere Gesellschaft übt, aber sollte Schule das nicht eigentlich sein, neben all den sicherlich auch wichtigen Akkusativobjekten und Dreiecksberechnungen?

Manchmal verlässt der Film das Schulgebäude und bindet den Ort mit ein. Wir gehen mit Hasan zum Boxen, besuchen die Moschee oder mit der Schule die Gedenkstätte, die an das Zwangsarbeiterlager erinnert. Mit Lehrerin Aynur Bal schauen die Kinder einen Dokumentarfilm über die ersten Gastarbeiter in Stadtallendorf, die hart arbeiteten und eher unter sich blieben, skeptisch beäugt von einheimischen älteren Damen unter bunten Bauernkopftüchern, und die Kinder der zweiten Einwanderergeneration erkennen sich selbst als Teil der Lokalgeschichte. In diesen Momenten wird aus Stadtallendorf ein ganzer Kosmos, in dem sich die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts spiegelt. Und auch Herr Bachmann war nicht immer Herr Bachmann. Seine Familie, so erzählt er einmal nebenbei, hieß einst Koslowski, stammt eigentlich aus Polen und wurde per Amtsverfügung germanisiert.

Auf Augenhöhe im Klassenraum

Langweilig wird es einem trotz der Länge des Films überraschenderweise nicht, denn man lernt die Schüler kennen, muss lachen, wenn Cengiz wieder einmal seiner überschwänglichen Liebe zu der Klasse und Herrn Bachmann Ausdruck gibt, hört Stefanie beim Singen zu und fiebert mit, ob Rabia an der Schule bleiben kann, an der sie sich wohlfühlt, oder mit ihrer Mutter nach der Trennung vom Vater wegziehen muss. Aber es gibt auch lose Enden wie Ferhan, die dick eingepackt in Mantel und Kopftuch meist allein sitzt und etwas mit sich herumträgt, von dem man nie erfährt, was genau es ist. Man sitzt auf Augenhöhe mit im Klassenraum und ist froh, dass der Film sich Zeit nimmt, all das zu beobachten, ohne es zuzuspitzen oder kommentieren zu müssen. Wer glaubt, anhand dieser Kinder nun ein endgültiges Urteil in Sachen Einwanderung oder Integration fällen zu können, ist auf dem Holzweg. Es ist nicht alles gut, und es ist nicht alles schlecht. Das ist eine angenehm ausgeglichene Position in einer sonst oft aufgeheizt geführten Debatte.

Am Ende geht es auf Klassenfahrt auf den Ponyhof. Ein letztes Mal singen, diskutieren, streiten und versöhnen sich alle, Hasan hat Geburtstag, Stefanie und Rabia backen einen Kuchen, Herr Bachmann hat ein Geschenk in der Hinterhand. Dann trennen sich die Wege.

Die Kinder werden nun von Kollegen wie Frau Bal und Önder Cavdar unterrichtet, dem „einzigen richtigen Türken hier“, wie der einmal frotzelnd sagt. Und auch, wenn Herr Bachmanns Weggang ein Verlust für Schüler und Schule ist: Man weiß die Kinder bei ihnen in guten Händen.

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