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#Irrläufer unter sich

Irrläufer unter sich

„Über Papst Anastasius wache ich,
den Photin abbrachte vom rechten Weg.“

„Anastasio Papa guardo,
lo qual trasse Fotin de la via dritta.“

(Inferno XI, 8–9)

Von Daniel Defoe heißt es, er habe als junger Mann den Namen seines Helden Robinson Crusoe auf einem Grabstein gelesen, hinter dem er sich am Rande eines Scharmützels versteckt hatte. Noch für uns birgt der Klang dieses Namens den ganzen Roman, und jeder Gang über einen Friedhof bringt ähnliche Erfahrungen hervor, in Stein gemeißelte Schlaglichter auf fremde Leben.

Bei seinem Weg über das höchst unfriedliche Gräberfeld der Hölle schildert Dante zu Beginn des elften Canto einen solchen Moment, und für wenige Terzinen nimmt die Commedia Züge des Actionkinos an: Der Dichter und sein Geleiter Vergil gelangen an den Rand eines eingestürzten Kraters, aus dem ihnen die sprichwörtlichen Höllenschwaden entgegenschlagen. Eilends flüchten sie sich hinter den Deckel eines großen Sarkophags. Sie werden diese Atempause für eine Erörterung der tiefsten drei Höllenkreise nutzen, zuvor aber blitzt für einen Augenblick die Inschrift des Grabdenkmals vor dem Dichter auf: „Über Papst Anastasius wache ich, den Photin abbrachte vom rechten Weg.“

Wie Dante zum Archäologen wird

Dantes Jenseits ist reich an Akteuren zeitgenössischer Konflikte, und der Dichter lässt wenige Gelegenheiten aus, sie noch einmal Stellung beziehen zu lassen. Das Grab von Papst Anastasius II. (496 bis 498) reicht hingegen zurück in die lang vergangene Epoche des Kirchenschismas, die auch der Autor der Göttlichen Komödie nur noch aus Büchern kennt. Die spätantike Tradition schilderte Anastasius als von Gott verworfen, weil er der monophysitischen Ketzerei eines gewissen Photinos, Diakon von Thessaloniki gefolgt sei. Eine populäre mittelalterliche Chronik fügte im Wissen um das, was ihre Leser wirklich interessierte, hinzu, Anastasius sei gestorben, als er sich beim Stuhlgang drückenderweise all seiner Innereien entledigt habe. Dante ist sonst nicht um Effekte am Rande des Erträglichen verlegen; einschlägig ist das Bild des Grafen Ugolino, Endgegner im neunten Höllenkreis, der dort den Schädel seines erzbischöflichen Kontrahenten Ruggieri abnagt. Auf einen leibhaftigen Auftritt des Papstes, der sich selbst ausgeschissen hatte, verzichtet der Dichter aber dann doch. Richten sich seine Gesprächspartner in früheren Canti wie mitteilsame Kastenteufel in ihren Särgen auf, tritt von Anastasius nur sein Grabmal in Erscheinung.

So wird Dante für die Dauer eines Lidschlags zum Archäologen und Epigraphiker, dem zum Einblick in die Vergangenheit nur das Monument bleibt. Er kennt antike und spätantike Grabmäler aus eigener Anschauung, aber natürlich vermerkt keine Grabinschrift die Verfehlungen des Bestatteten, vielmehr gibt sich jene des Anastasius als Kommentar der Nachwelt, letztlich: Dantes selbst, zu erkennen. Dieser fällt, gemessen an der Ungeheuerlichkeit eines häretischen Papstes, noch zurückhaltend aus, nicht zuletzt da schon der Name – anastasis bezeichnet die Auferstehung – seinem höllischem Verhängnis Hohn spricht.

Der Möglichkeiten vom rechten Weg abzukommen sind viele

Vielleicht zuckt Dante aber auch zurück, weil er sich hier selbst erkennt: Denn der rechte Weg, von dem der gefallene Papst abgekommen war, ist der gleiche, den der Autor in den ersten Zeilen seines Werks für sich selbst als verloren beschreibt. Schlimmer noch: Während Anastasius einem Verführer zum Opfer fiel, ging Dante die „diritta via“ im finsteren Wald seiner midlife crisis ganz ohne äußeres Zutun verloren.

Das Papstgrab im elften Canto bietet Dante Windschatten und Zuflucht vor den infernalischen Dämpfen – aber auch einen jähen Blick auf einen anderen Irrgänger. Wer durch die Hölle geht, muss an seine Vergänglichkeit zwar nicht eigens erinnert werden; Dantes Verdammte aber sind zugleich so quicklebendig, leidenschaftlich und redselig, dass es wohl doch der Konfrontation mit dem stummen, nur durch seine Inschrift sprechenden Grabes bedarf, um die Trostlosigkeit eines Todes ohne Erlösung effektiv heraufzubeschwören: Der Möglichkeiten vom rechten Weg abzukommen sind viele, und manchmal scheint in einem Namen ein ganzes Schicksal auf, das auch das eigene sein könnte.

Alexander Heinemann lehrt Klassische Archäologie in Tübingen.

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