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#Ehrenhafte Sexarbeit und die „falsche Neun“

Ehrenhafte Sexarbeit und die „falsche Neun“

Im Fußball gibt es die „falsche Neun“, taktische Variante eines Mittelstürmers, der sich anarchisch übers Feld bewegt, auch schon einmal abtaucht, um dann plötzlich wie aus dem Nichts vorm Tor aufzukreuzen – und schwer zu greifen ist. Wenn es unter den größeren periodischen Ausstellungen eine „falsche Zwei“ gibt, dann ist es die verkappte Biennale von Sonsbeek, benannt nach dem Park in Arnheim: Die Freilichtschau wurde 1949, noch vor der Documenta in Kassel und Jahrzehnte vor den Skulptur Projekten Münster, ins Leben gerufen und zog bei ihrem Debüt sofort 125 000 Besucher an. Sonsbeek startete als Biennale, entschleunigte sich dann aber rasch zur Triennale, um seit 1958 völlig losgelöst auf den Plan zu treten, so geschehen 1971, 1986 und 1993, sodann 2001, 2008, 2016.

Mit einem derart wirren Turnus lässt sich kontinuierlicher Diskurs nicht begründen, weshalb sich die Schau mit Kunst im öffentlichen Raum nun als Quadriennale neu aufstellt – nicht ohne freilich einen weiteren eher ungewöhnlichen Akzent in der Agenda zu setzen: Die zwölfte Ausgabe ist sozusagen zugleich auch die dreizehnte, nämlich eine Doppelausgabe: „Sonsbeek 2020/2024“. Wegen Corona musste sie in dieses Jahr verschoben werden; ihr Rahmenprogramm soll sich, durchaus ambitioniert, über die nächsten vier Jahre hinweg in der Stadt abspielen, um die Ausstellung thematisch tiefer vor Ort zu verankern. Klingt nach einem Plan.

Der Reichtum des heutigen Ausstellungshauses kam aus Surinam

Mit der Leitung wurde Bonaventure Soh Bejeng Ndikung betraut, Berliner Kurator und als designierter Chef des Berliner Hauses der Kulturen dieser Tage ein gefragter Ausstellungsmacher. Mit sicherem Gespür für die Herkunft des Wohlstands, den der weitläufige Volksgarten gleich hinterm Hauptbahnhof ausstrahlt, recherchierte der gebürtige Kameruner in der Weißen Villa und im Zypendaal Huis – deren Eigentümer zählten zu den späten Gewinnern der Handelsmacht im Goldenen Zeitalter, zu Reichtum gebracht hatten sie es mit dem Umschlag von Zucker, Tabak, Kaffee aus den vielen niederländischen Kolonien. In den Archiven der Familie Zypendaal stießen Ndikung und sein Team auf eine Arztrechnung für eine Sklavin, die 1727 aus der Plantage Vossenberg in Surinam nach Arnheim verschleppt worden war und in einem der wenigen Dokumente ihrer Existenz als „zwarte Anna“ geführt wurde. Über ihr Dasein ist wenig bekannt, das Amsterdamer „Black Archive“ hat die Besitzverhältnisse der unbekannten Zwangsarbeiterin in groben Zügen rekonstruiert: Bis zu ihrem Tod am 22. Dezember 1780 machte Anna zwei Familien im Sonsbeek-Park den Haushalt.

Vom Tellerwäscher zum Pfannenwäscher: In triefender Ironie überzieht die Malerin Alida Ymele aus Kamerun die von ihr porträtierten waschenden und putzenden Frauen mit dem Raster der Moderne.


Vom Tellerwäscher zum Pfannenwäscher: In triefender Ironie überzieht die Malerin Alida Ymele aus Kamerun die von ihr porträtierten waschenden und putzenden Frauen mit dem Raster der Moderne.
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Bild: Victor Wennekes

Mit ihrem Schicksal ist das Thema der laufenden, mit rund 35 Werken kompakt bestückten Ausstellung gesetzt: Im Zentrum stehen Arbeit und Ausbeutung im Zeichen von Diskriminierung. Mehrere Künstlerinnen widmen ihre Werke jener Anna. Wie ihr Leben heute aussehen würde, illustriert Alida Ymele in einer Reihe von Porträts unmissverständlich, sie zeigt junge Frauen beim Putzen, beim Abwasch mit Gummihandschuhen, Besen und Wischmopp in der Hand: grell in den Kontrasten, grell in der Ironie. Die in Douala, Kamerun, lebende Malerin hinterlegt ihre Protagonistinnen jeweils mit einem Gitterwerk – das modernistische Raster, das in der westlichen Kunst für Fortschritt stand, gerät zum Gefängnis.

Wo Muster politisch werden: Oscar Murillos Wandschirme mit orientalischen Ornamenten in der Kirche.


Wo Muster politisch werden: Oscar Murillos Wandschirme mit orientalischen Ornamenten in der Kirche.
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Bild: Museum

Direkt neben der Villa Zypendaal wiederum, in der Anna im achtzehnten Jahrhundert in der erzwungenen Diaspora lebte und arbeitete, widmet ihr Farkhondeh Shahroudi ein wogendes Flaggenmeer – auf den roten Bannern bekundet die in Berlin lebende Iranerin ihre Solidarität mit der Leibeigenen und weist mit einem riesenhaften Ball aus Teppich auf die globale Dimension ihrer unrechtmäßigen Bestimmung hin.

Heutige Erwartungen an eine Biennale erfüllt Sonsbeek darin, dass sie der Kunst eine konkrete Funktion zuweist. Sie besteht darin, gesellschaftliche Krisen wie den Kolonialismus und den Rassismus in Bilder zu fassen und diese wirksam, wenn nötig plakativ, nach außen zu tragen. Wie Olu Oguibe, der bei der Documenta 2017 für seinen umstrittenen Obelisken in Kassel mit dem Arnold-Bode-Preis ausgezeichnet wurde: In der City und im Park platziert er die Leuchtschrift „sex work is honest work“, die bei Dunkelheit ihre Wirkung entfaltet. Den Ausflug zu entlegenen Satellitenorten belohnen Werke wie Hira Nabis großartig in Szene gesetzter Film über die Arbeitsmigranten, die auf einer Werft im pakistanischen Baluchistan monströse Tanker abwracken, und Nader Mohamed Saadallahs Dokumentation der Eisengießer in Ägypten, die ihre archaische Arbeit nach hiesigen Maßstäben nahezu ungeschützt verrichten. Eine schöne Pointe setzt Sonsbeek im Kröller-Müller-Museum in Otterlo: Dort ist eine kleine Wechselausstellung Stanley Brouwn gewidmet, einem niederländischen Konzeptkünstler der ersten Stunde mit surinamischer Abstammung.

Trügerische Schönheit: Die Iranerin Farkhondeh Shahroudi weist mit ihren leuchtenden Teppichen und Flaggen auf das noch immer bestehende Problem der Leibeigenschaft in vielen Ländern hin.


Trügerische Schönheit: Die Iranerin Farkhondeh Shahroudi weist mit ihren leuchtenden Teppichen und Flaggen auf das noch immer bestehende Problem der Leibeigenschaft in vielen Ländern hin.
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Bild: Victor Wennekes

In ferner Erinnerung liegt bereits Okwui Enwezors wegweisende Ausstellung „The Short Century“ von 2001 über (vermeintliche) Freiheit und Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent, damals bestechend in der Münchner Villa Stuck eingerichtet. Mit einer gewissen Beklommenheit muss man feststellen, wie notwendig die Stoßrichtung dieser Schau geblieben ist – all die Konflikte, die sich aus dem Kolonialismus ergeben, bleiben auch der zeitgenössischen Kunst für weitere Befassung erhalten.

Force Times Distance: On Labour and its Sonic Ecologies. In Arnheim und an weiteren Orten; bis zum 29. August. Der Katalog kostet 35 Euro.

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