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#Theorema Magnum MMXX: das Liquid Tensor Experiment [Mathlog]

„Theorema Magnum MMXX: das Liquid Tensor Experiment [Mathlog]“

Ursprünglich motiviert von Fragestellungen, die aus der Analysis reeller Funktionen stammen (Ausnahmemengen für die Konvergenz von Fourier-Reihen) und später aus eher metaphysischen Motiven hatte Georg Cantor seit den 1870er Jahren die Theorie der Punktmengen und dann die abstrakte Mengenlehre entwickelt. Felix Hausdorff beschäftigte sich ursprünglich aus philosophischem Interesse mit Cantors Mengenlehre, sein 1914 erschienenes Hauptwerk “Grundzüge der Mengenlehre” war dann aber kein philosophisches, sondern ein mathematisches Buch. Es sollte die Idee befördern, dass viele Sätze über metrische Räume auch in allgemeineren topologischen Räumen richtig sind.
Maurice Frechet hatte 1906 in seiner Dissertation bei Hadamard metrische Räume eingeführt (die aber erst von Hausdorff so genannt wurden) und topologische Begriffe wie Kompaktheit und Trennbarkeit definiert. Statt von einer Metrik ging Hausdorff in seinem Buch dann von einer Topologie aus, d.h. einer abstrakten Definition offener Umgebungen mit gewissen Eigenschaften: abzählbare Durchschnitte und beliebige Vereinigungen der von den offenen Umgebungen erzeugten offenen Mengen sollen wieder offen sein, weiter verlangte er ein Trennungsaxiom.
Für metrische Räume definieren die offenen Mengen (also diejenigen, wo zu jedem Punkt eine offene metrische Kugel um den Punkt noch in der Menge liegt) eine solche Topologie. Die Rolle offener Umgebungen war kurz zuvor schon in einem Buch von Hermann Weyl über Riemannsche Flächen betont worden, und die Definition topologischer Räume über die Eigenschaften offener Mengen setzte sich letztlich durch, u.a. weil man in vielen Funktionenräumen zwar natürliche Topologien, aber keine kanonischen Metriken hat. Hausdorffs Definition topologischer Räume wurde später noch dahingehend modifiziert, dass man statt offenener Umgebungen die offenen Mengen zur Grundlage der Theorie machte, außerdem verzichtete man auf das (später als Hausdorff-Eigenschaft bezeichnete) Separabilitätsaxiom?
Zur Mengenlehre im damaligen Verständnis zählten auch die Theorie der Punktmengen und die Maß- und Integrationstheorie. Auch wenn es ältere Behandlungen des Themas gab, wurde Hausdorffs Werk das Buch, von dem folgende Mathematikergenerationen – allerdings erst die neuen Generationen nach dem Krieg, der vier Monate nach Erscheinen des Buches begann – die Elemente der Mengenlehre und Punktmengentopologie lernen würden. Insbesondere seine einfache Definition von Zusammenhang – die schon andere vor ihm gefunden hatten – als die Unzerlegbarkeit eines Raumes in disjunkte offene Mengen setzte sich durch.
Hausdorff benutzt zwar den Wohlordnungssatz, um zu beweisen, dass teilgeordnete Mengen maximale linear geordnete Untermengen enthalten. Sonst vermied er ihn aber weitgehend und bevorzugte transfinite Induktion. Den Übergang von endlicher zu abzählbarer Additivität in der neuen Maß- und Integrationstheorie bezeichnete er als einen der größten Fortschritte der Mathematik, aber das Auswahlaxiom wollte er doch lieber auf abzählbare Auswahlen eingeschränkt wissen.
Nachdem Vitali schon 1905 gezeigt hatte, dass aus dem Auswahlaxiom die Existenz nicht-meßbarer Mengen folgt, entdeckte Hausdorff, dass man mit Hilfe des Auswahlaxioms eine Sphäre in Stücke zerlegen kann, die anders zusammengesetzt zwei Kugeln desselben Radius geben. Das wurde später als Banach-Tarski-Paradoxon bekannt. Die Stücke der Zerlegung können nicht meßbar sein, weil man andernfalls eine Verdoppelung des Volumens bewerkstelligt hätte.
Wie die meisten Mathematiker setzte Hausdorff statt einer konsequenten Axiomatisierung auf eine pragmatische Mengenlehre, die Problem-Mengen mied. Nach und nach wurde es immer mehr Mathematikern bewusst, dass die Mengenlehre eine unentbehrliche Grundlage für die Strukturierung der Mathematik ist. Das von Zermelo (mit einem weiteren Axiom von Fraenkel) eingeführte System bewährte sich in der Praxis, weshalb es als Basis der modernen Mathematik von der Mehrheit der Mathematiker anerkannt wurde.

Von Georg Cantor stammt auch die erste veröffentlichte rigorose Definition der reellen Zahlen als Vervollständigung (durch Grenzwerte von Cauchy-Folgen) der rationalen Zahlen. Im selben Jahr 1872 veröffentlichte auch Eduard Heine eine im Wesentlichen äquivalente Definition. Richard Dedekind hatte bereits 1858 seine Theorie der Dedekind-Schnitte ausgearbeitet, veröffentlichte sie aber erst 1872, als er von Cantors und Heines geplanten Veröffentlichungen erfuhr.
Näher an der Intuition und der Schulmathematik ist es natürlich, reelle Zahlen als Dezimalbrüche einzuführen, was Simon Stevin schon 1585 vorgeschlagen hatte. Das Problem mit diesem Ansatz ist, dass unterschiedliche Dezimalbrüche dieselbe Zahl darstellen können: 0,999… ist dasselbe wie 1,000…, und genauso ist dann auch 0,02999… dasselbe wie 0,03 und 1,34999… dasselbe wie 1,35 und so weiter. Das mathematisch korrekt zu formulieren ist letztlich viel umständlicher als reelle Zahlen durch Dedekind-Schnitte oder Cauchy-Folgen zu definieren. Außerdem arbeiten Mathematiker ohnehin mit den Eigenschaften der reellen Zahlen und nicht mit ihrer formalen Definition.

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