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Ukrainisches Debütalbum der Sängerin Viktoriia Vitrenko

Nach einigen Klaviertönen, die einen unregelmäßigen Takt vorgeben, tritt eine gleichermaßen sanfte wie un­ruhige Sopranstimme auf den Plan, die eine wortlose Melodie summt. Zusammen mit der metallisch-per­kus­siven Begleitung durch das präparierte Klavier entsteht eine geheimnisvolle, ja albtraumartige Atmo­sphäre. Aus ihr wächst die schöne Stimme im Laufe dreier, von der polnischen Komponistin Agata Zubel geschaffener Lieder hervor. Im letzten kippt die anfängliche Zaghaftigkeit in einen unterdrückten, verzweifelten Wutschrei um.

Limbo – das ist der Ort, an dem Seelen auf ihre Erlösung hoffend verweilen, gefangen zwischen Himmel und Hölle. Diese Stimmung des schmerzvollen Wartens gab dem ersten Soloalbum der ukrainischen So­pranistin und Komponistin Viktoriia Vitrenko seinen Namen. „Limbo“ erscheint am 2. April digital und ist bereits als Doppel-LP beim Label „Kyiv Dispatch“ erhältlich, das experimentelle und zeitgenössische klassische Musik aus der Ukraine veröffentlicht.

Verknüpfung von Neuer Musik und Folklore

Gewidmet ist das 18 Lieder umfassende Album Vitrenkos Freundin und Kollegin, der belarussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, die von Beruf eigentlich Flötistin ist und wegen ihrer Beteiligung an der Protestbewegung 2020 eine elfjährige Haftstrafe unter menschenunwürdigen Bedingungen verbüßt. Zwischenzeitlich kamen Details zu ihrem desolaten Gesundheitszustand ans Licht. „Limbo“ war bereits im Februar 2022, also kurz vor Beginn der Großinvasion, auf dem Eclat Festival für Neue Musik in Stuttgart zu erleben. Zu einer Zeit also, als die Corona-Pandemie noch andauerte und zugleich die Gefahr ei­nes großen Krieges immer unausweichlicher schien. Auch als die Musikerin das Album später im August 2022 im Studio in der Region Kyjiw aufnahm, war die Sängerin umgeben von Ungewissheit – einem Zustand, der bis heute andauert. Das vermittelt ihre Stimme, begleitet von ihrem Klavierspiel, eindringlich.

Auf die Eröffnung durch Zubels Stücke folgt der Zyklus „Signs of Presence“ der Komponistin Alla Zagaykevych, der Gedichte von Iya Kiva verarbeitet. Die Dichterin musste bereits 2014 wegen der damals beginnenden russischen Aggression aus Donezk fliehen. Ihre in ukrainischer Sprache verfassten Verse beklagen den Verlust der Heimat, stilistisch verknüpfen die Lieder elegant Neue Musik und Folklore. Vitrenkos Gesang entgrenzt sich im dritten und letzten Stück des Zagaykevych-Zyklus in eine verzweifelte Klage, die in Wahnsinn überzugehen scheint.

Viktoriia Vitrenko: Limbo. Lieder von Agata Zubel u. a.Viktoriia Vitrenko (Klavier und Gesang). Doppel-LP, Kyiv Dispatch
Viktoriia Vitrenko: Limbo. Lieder von Agata Zubel u. a.Viktoriia Vitrenko (Klavier und Gesang). Doppel-LP, Kyiv DispatchKyiv Dispatch

Die chinesische Komponistin Ying Wang hat mit ihren zwei „Illumina­tions“-Titeln den einzigen Teil des Albums geschaffen, der neben Stimme und Klavier auch Elektronik enthält. Vitrenko spricht nun, auf Englisch, die Worte erst der dissiden­tischen Verlegerin Geng Xiaonan vor Gericht nach und verkündet anschließend durch ein Megafon die 2020 an die Protestierenden in Belarus gerichtete Botschaft der charismatischen Maria Kolesnikowa – „We are peaceful, we are honest, we want to live in a safe and free country. We are ready to fight for this.“ Diese simplen wie energischen Worte, von Vitrenko mehrfach wiederholt, prägen sich ein. Sven-Ingo Kochs für sie komponierte „Simple Songs und Lieder des Verzehrens“ klingen elegant und schräg zugleich. Sie sind Vertonungen von Jan Wagners Gedichten.

Maxim Shalygins bereits in den Jahren 2009 und 2010 und als einzige nicht im Auftrag Vitrenkos entstandenen ruhigen „Songs of Holy Fools“ schließen das Album ab. Er hat sie während seines Umzugs aus der Ukraine in die Niederlande komponiert. Eines der fünf Lieder basiert auf dem Gedicht „Zärtlicher-zart“ von Ossip Mandelstam, die anderen auf Shalygins eigenen Versen. Alle sind in russischer Sprache verfasst.

Mit „Limbo“ präsentiert Vitrenko ein kreatives, durch Stilvielfalt un­gewöhnliches Debütalbum. Es ist ihr gelungen, die vergangenen von Krieg, Widerstandskampf und Repressionen erfüllten Jahre und die mit ihnen einhergehenden Emotionen in Kunst zu fassen. Das Hörerlebnis ist kathartisch. Ihr Album wird die Musikerin im Mai als audiovisuelle Installation auf dem Frequenz-Festival in Kiel neu vorstellen.

Viktoriia Vitrenko: Limbo. Lieder von Agata Zubel u. a.Viktoriia Vitrenko (Klavier und Gesang). Doppel-LP, Kyiv Dispatch

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