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#Ungeküsst im Plattenbau

Ungeküsst im Plattenbau

Buchstäblich auf der letzten Seite, der dreihundertdreiundvierzigsten, taucht plötzlich ein Engel auf. Und nicht irgendeiner, sondern der jüngste von allen, Angelus Novus, den nur Paul Klee einmal erblickt und gleich gezeichnet hat. Zum „Engel der Geschichte“ ernannt, wendet er bekanntlich bei Walter Benjamin sein Antlitz der Vergangenheit zu, einem wachsenden Trümmerberg, während er von einem „Sturm vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat“, rückwärts in eine fremde Zukunft geweht wird: ein Abschied auch vom optimistischen, teleologischen Geschichtsverständnis. Hier nun zeigt sich dieser Engel weniger elegisch in einer technoiden Variante, als Sonde Voyager 1, die, noch während sie im Jahr 1990 unser Sonnensystem verließ, die Kamera auf den kleinen blauen Punkt, die Erde, gerichtet hielt. „Pale Blue Dot“ heißt das berühmte Foto, „und gleichzeitig raste die Sonde weiter ins All. In Richtung Vergangenheit, zum Anfang, an dem alles begonnen hatte, mit einem mikroskopisch kleinen, extrem heißen Punkt.“

Dass in der Zukunft die Vergangenheit aufgehoben ist und umgekehrt, dass der „Untergang des alten Landes“ nicht einfach zur Ersetzung durch ein neues führte, sondern das Kommende erst zu dem formte, was es heute ist, diese Grunderkenntnis von Björn Stephans Roman „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ (oder zumindest seines dreizehnjährigen Protagonisten Sascha Labude) findet hier ein so treffendes Bild, dass man geneigt ist, dem größtenteils im Jahr 1994 spielenden Buch viel Ungelenkes zu verzeihen. Aber auch nicht alles.

Hölzern und klischeebeladen

Insbesondere die Figurenzeichnung schwächelt. Sie überzeugt einzig im Falle des Protagonisten und Icherzählers: Sascha, Sohn eines depressiven, mit der DDR seine Verankerung verloren habenden Vaters und einer dauerbesorgten willensstarken Mutter, lebt in einer Plattenbausiedlung nach DDR-Standard, die eben noch heiß begehrt war und plötzlich als asoziales Umfeld gilt. Eine rasante Rückkehr zu den Ruinen, aus denen man sich auferstanden wähnte. Alles dazwischen: ausgelöscht. Das Erzählprinzip, die äußeren Veränderungen ganz aus naiver Kinderperspektive zu schildern, ist nicht neu, aber effektiv. Und als Jugendlicher mit eigenen Sorgen lebt es sich in dieser zerfallenden Siedlung so gut und schlecht wie überall.

Björn Stephan: „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“. Roman.


Björn Stephan: „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“. Roman.
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Bild: Galiani Verlag

Kaum aber kommen die übrigen Figuren in den Blick, wird es hölzern und klischeebeladen. Da haben wir etwa Saschas Freund Sonny, der Elton John vergöttert und der allzeit größte Songwriter aus Klein Krebslow werden will, oder die neu zugezogene Juri (eigentlich Jenni), ein schnippisches, angstfreies Mädchen, das jederzeit aus dem Stand volkshochschultaugliche Vorträge über das Universum halten kann (und in die sich Sascha natürlich unsterblich verliebt). Noch schlimmer geraten ist ein blasiert sprechender Rentner, den die Kinder (außer Juri) erst für einen Penner halten und der sich dann als überaus weiser, belesener Mentor erweist. Natürlich gibt es auch zwei prototypische Jung-Faschos (die von Sascha und Juri nach Drei-Fragezeichen-Manier beschatteten Gegner) und eine ungebrochen weiterspitzelnde ehemalige Stasi-Informantin.

Wo ist der ästhetische Überschuss?

Das auf der Alltagsebene stattfindende Verschmelzen der Kulturen wird atmosphärisch inszeniert, indem die für das Zeitkolorit wichtigen Signalwörter von hüben wie drüben stammen: „Nimm 2“, „Birkenfurnier-Möbel“, „Wartburg“, „Hubba Bubba“, „Diamant-Rad“, „BMX-Rad“ und so fort. Das ist durchschaubar, aber funktioniert. Um Sascha jedoch eine leicht poetische Note zu verleihen, hat der Autor ihm noch das etwas aufdringliche Hobby zugeteilt, seltene Worte aus allen Weltsprachen zu sammeln, mit deren Symbolik wir ständig traktiert werden. Wo es um Saschas Gefühle für Juri geht – es ist ein Buch der Abschiede –, gelingen Stephan jedoch einige zart flirrende Szenen, auch wenn sich selbst dort die Sentenzen-Botschaften einschleichen: „Ein anderer Mensch kann nie dein Traum sein. Ein anderer Mensch kann dich höchstens träumen lassen. Und dich dazu ermutigen, deinen eigenen Traum zu finden.“ Zum erträumten Kuss kommt es nie, weil Sascha zu schüchtern ist.

Der Autor, der bislang eher für seine Reportagen bekannt war, hat die Erzählung in eine Rahmenhandlung samt Manuskriptfiktion verpflanzt: Juri findet 25 Jahre später, nach dem Tod ihrer alkoholkranken Mutter, Saschas Aufzeichnungen, die ebendieses Buch sind. Doch auch das scheint mehr einer Creative-Writing-Idee zu folgen, als erzähltechnisch ein Gewinn zu sein, denn eine Brechung oder Vertiefung der Handlung gibt diese dürre Ebene nicht her. Ein Jugendbuch muss zwar nicht unbedingt mit Komplexität punkten, aber es sollte doch eine Erzählhaltung finden, die dem Gegenstand – hier also: der gesellschaftlichen Verlorenheit in Ostdeutschland kurz nach der Wende, als ganze Biographien entwertet zu sein schienen – auf Augenhöhe begegnet und zudem stilistisch einen gewissen ästhetischen Überschuss mitbringt.

Im vorliegenden Roman aber gibt es nur das, was an der Oberfläche zu sehen ist und dazu noch ständig erklärt wird: „Und vermutlich, dachte ich, war das Beste am Untergang des alten Landes, dass sich auch diese eckige und abgestandene Sprache aufgelöst hatte wie ein Zuckerwürfel, den man in eine Tasse Früchtetee plumpsen lässt.“ Ein nostalgisches Setting und dazu gefühliges Storytelling rund um einige symbolträchtige Motive wie die vereint brennenden Wagen der Nachbarschaft – ein Wartburg, ein Lada und der Mitsubishi der Labudes, was Saschas degradierten Vater befreit und irre lachen lässt – ist einfach zu wenig für das selbst gesteckte Ziel, dieses Interim („wie eine andere Zeit auf einem anderen Planeten“) vor uns auferstehen zu lassen, „genauso, wie es damals gewesen war“. Schade um den Engel.

Björn Stephan: „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“. Roman. Galiani Verlag, Berlin 2021. 350 S., geb., 22,– €. 

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