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#Verwischte Schrift

Verwischte Schrift

Mit einem neuen Buch von Patrick Modiano geht es einem ein bisschen wie mit dem neuen Album einer Band, die man schon sehr lange hört. Man weiß, dass sich der Stil nicht mehr ändern wird, und ist doch voller Vorfreude. Da ist schon mit den ersten Tönen und Sätzen der unverkennbare Sound, da sind die vertrauten Passagen, aber es sind eben nicht einfach Wiederholungen und simple Déjà-vus, es kommt immer zugleich eine Variation der Klangfarbe, eine neue Idee, ein Motiv, das einen wieder hineinzieht in diese schmalen Bücher, die Romane heißen, auch wenn sie oft eher wie eine lange Erzählung wirken. Und jedes Mal fasziniert es wieder, wie jemandem auf selten mehr als 140 Seiten ein so filigranes, reiches Gewebe der Erinnerungen gelingt.

Peter Körte

Peter Körte

Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

Natürlich ist das auch so in „Unsichtbare Tinte“. Ein Ich-Erzähler, er heißt Jean Eyben, taucht ein in die Vergangenheit. Eine geordnete Chronologie ist nichts, was sich hier von selbst versteht, Linearität ist keine Norm, im Falle der Erinnerung ist sie oft eher hinderlich, weil die Dinge sich im Bewusstsein nicht von selbst zu einer Zeitreihe gruppieren, sondern nach ihrer Bedeutung im Unbewussten des Erinnernden anordnen. Da bleiben Lücken und Bruchstücke, es gibt keine erkennbare Gesetzmäßigkeit, nach der sich die Erinnerungen assoziieren, zugleich aber ist ihre Abfolge auch kein bloßer Zufall.

Bei Jean Eyben ist, im Unterschied zu vielen anderen Modiano-Erzählern, von vorneherein viel ausgeprägter, dass er bei seiner Suche nach einer Frau namens Noelle Lefebvre auch als Detektiv in eigener Sache unterwegs ist; dass er sich nicht nur daran erinnert, wie er als Zwanzigjähriger für eine Agentur arbeitete und den Auftrag bekam, diese Noelle zu finden, aber erfolglos blieb. Eine Variante diesmal auch, dass dieses Ich nicht nur Orte von früher aufsucht, sondern sie schreibend findet: „Ja, die Erinnerungen kommen mit dem Kritzeln der Feder.“

Schatten des Vergessens

Mit jeder Bewegung führt auch ein Weg zurück in Modianos Romanwelt. Die Agentur Hutte tauchte 1978 in „Die Gasse der dunklen Läden“ auf, einem Buch, das Peter Handke ins Deutsche übersetzte, dort heißt der Erzähler, der unter Amnesie leidet, Guy. Und zugleich könnte Jean Eyben auch in „Eine Jugend“ (1981) neben der Hauptfigur Louis auf den Sonntagabendbus von Annecy ins Internat gewartet haben, nur dass Jean immer erst in Veyrier-du-Lac zustieg.

Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, 142 Seiten.


Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, 142 Seiten.
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Bild: Verlag

Diese Beziehungen und Querverbindungen, die sich in und zwischen Modianos Büchern ständig ergeben, hängen auch damit zusammen, dass die magische Zeit, an die sich ein Erzähler aus seiner jeweiligen Gegenwart erinnert, immer die sechziger Jahre sind, in Paris und manchmal auch anderswo. Man kommt an Orte, an denen man schon einmal war. Oder das zumindest glaubt. Und weil es nicht einfach eine einzige Vergangenheit ist, an die sich jemand erinnert, hat Modiano selbst auch schon von Überblendungen wie im Film gesprochen, um anschaulich zu machen, wie sich die verschiedenen Schichten der Erinnerung übereinanderlegen und sich manchmal ineinander auflösen. „Gegenwart und Vergangenheit“, sagt Jean, „vermischen sich in einer Art Transparenz, und jeder Augenblick, den ich in meiner Jugend erlebt habe, erscheint mir, losgelöst von allem, in einer ewigen Gegenwart.“

Wenn man versucht, aus den verschiedenen Ebenen in „Unsichtbare Tinte“ eine Chronologie zu rekonstruieren, sind die Zeitsprünge klar zu sehen und die Einschübe, auch die Vagheiten – wenn Jean zum Beispiel als Zeitangabe einfach „ein anderer Nachmittag“ schreibt oder „in einem Juni abends gegen elf“, um fortzufahren, dass der Mann, den er in einer Apotheke an der Place Blanche zu erkennen glaubt, „etwa fünfzehn Jahre zuvor“ eine andere Haarfarbe gehabt habe. Diese Unschärfen sind ja keine Unaufmerksamkeiten. Sie sind Modianos unnachahmliche Art und Weise, die Wege und Muster unserer Erinnerung literarisch sichtbar zu machen, in ihrer Unzuverlässigkeit und Unvollständigkeit, die sich weder „korrigieren“ noch „verbessern“ lassen.

Handschrift des Schicksals

Zum Erinnern gehört wie dessen Schatten das Vergessen, und beider Dialektik macht Modianos Prosa aus. Nicht zufällig heißt eines seiner Bücher „Aus tiefstem Vergessen“. Und nicht zufällig haben die Namen eine besondere Bedeutung. Namen von Straßen, Cafés, Geschäften, Metrostationen, von Personen wie jener Noelle. Der Erzähler benennt – und horcht dem Klang nach, ob da noch eine Resonanz ist.

Auch der Titel „Unsichtbare Tinte“ ist eine treffende Metapher für dieses Oszillieren. Nicht nur, weil sie auf Spione und verborgene Geheimnisse verweist. Vor allem liegt in ihr eine Hoffnung: „Wenn du manchmal Gedächtnislücken hast, so stehen alle Einzelheiten deines Lebens irgendwo geschrieben mit magischer Tinte“, sagt Jean. Das ist nun nicht die Handschrift des Schicksals. Es besagt bloß, dass alles, was man jemals erlebt hat, in irgendeiner Form erhalten geblieben und nicht restlos getilgt worden ist. Man muss nur die richtige chemische Substanz finden, die das Geschriebene sichtbar macht.

Die Suche nach dieser Substanz, könnte man sagen, ist es auch, die jedes neue Buch von Patrick Modiano antreibt, eine Vergangenheit zu entziffern, lückenhaft, mit „Leerstellen“ – was aber kein Grund ist, die Suche abzubrechen. Es gibt bei Modiano nie die „Lösung“ eines Rätsels oder eines Falls wie in einem Detektivroman, aber es kann mit einer Überraschung enden, einem erstaunlichen Perspektivwechsel, der hier einen Umweg über Rom erfordert, das mit seiner ganzen Vergangenheit und Ewigkeit auch eine „Stadt des Vergessens“ ist.

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