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#Vom Dilemma der Risikokompensation

Vom Dilemma der Risikokompensation

Zu der trotzigen Jetzt-ist-aber-gut-Haltung und der zornigen, von Politikern priorisierten Wir-haben-die-Nase-voll-Rede, mit der die erste Öffnungssession in diesem zweiten Pandemiejahr eingeläutet wurde, gesellt sich immer öfter die verdächtig euphorisch vorgetragene Alles-wird-gut-Phrase. Alles wird jetzt gut mit den Schnelltests, heißt es. Eine „neue Phase in der Pandemie“ beginnt. Wie war das noch mit den Impfstoffen? Mit der Kontaktverfolgung der Gesundheitsämter? Mit der Digitalisierung überhaupt? Schnelltests, Tests überhaupt, können – und dafür gab es schon im vergangenen Jahr ausreichend Evidenzen – die Kurve knicken und Infektionsketten kappen. Pragmatisch gesehen und richtig angewendet, sofern die Frequenz stimmt und ebenso die Qualität der Tests, bringen sie uns einen Schritt voran, das ist so weit Konsens. Aber wie weit bringen sie uns aus der Gefahrenzone?

Joachim Müller-Jung

Joachim Müller-Jung

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

Was auffällt, ist doch, dass inzwischen jede Lockerungsdebatte von einem rhetorischen Feuerwerk für die große Lösung (aktuell: „Stufenplan“) eröffnet wird und am Ende die Rakete ausgebrannt im Vorgarten vergammelt. Wo also ist der Plan, der die Schnelltests per QR-Code mit den Tracing-Apps und so Gott will auch mit der steuerfinanzierten Corona-App verknüpft, die laut Kanzleramtsministerium nun endlich kurz vor der Vernetzung und damit quasi vor der Volldigitalisierung stehen soll? Die traurige Realität ist: Impfstoff und nun auch die Schnelltests werden politisch-kommunikativ zum Leuchten gebracht, der strategischen Kontaktverfolgung bleibt da nur noch die Rolle des Knallfroschs der Pandemiepolitik. Was aber heißt das für die kommenden Wochen? Wie verhalten sich die Lockerungen zu den noch keineswegs ausgeräumten Risiken, wenn wir es einerseits mit einer größeren Virulenz zu tun haben – Stichwort Virusvarianten – und auf der anderen Seite zugleich mit mehr Laxheit und Euphorie?

Medizinern ist das Dilemma wohlbekannt, in das wir jetzt hineinrutschen. Es heißt Risikokompensation. Die Menschen passen ihr Verhalten den gefühlten Risiken an. Als vor vielen Jahren neue, effektive HIV-Prophylaxemittel greifbar (aber persönlich oft noch nicht verfügbar) waren, wurden die Betroffenen wieder schlagartig unvorsichtiger. Die Fallzahlen gingen zeitweise wieder rapide hoch. Folgenschwere Risikoanpassungen kennt man auch aus Verkehrsstudien. Als Fahrradhelme häufiger getragen wurden, aber Radwege noch nicht üblich waren, fuhren immer mehr Autofahrer dichter ran an den Straßenrand. Die Folge: mehr Unfälle mit Radfahrern. Allein die Empfindung eines geringeren Risikos kann das eigene Verhalten verändern. Wenn also Impfung (für die meisten noch fern) und Schnelltests nun dazu führen, dass die Pandemie für nahezu überwunden und das Risiko der Virusverbreitung für minimal gehalten wird, ist offensichtlich wenig gewonnen. Die Kunst der politischen Rhetorik dürfte deshalb jetzt vor allem darin bestehen, sich mit „Licht am Ende des Tunnels“-Floskeln zu mäßigen und stattdessen die Ärmel an der Pandemiefront noch einmal hochzukrempeln.

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