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#Warum musste die dreijährige Greta sterben?

Warum musste die dreijährige Greta sterben?

Weggeduckt sitzt Sandra M. hinter der wegen Corona aufgestellten Plexiglasscheibe am äußersten Ende der wuchtigen Anklagebank in Saal 100 des Landgerichts Mönchengladbach. Beinahe könnte man die junge Frau mit dem halblangen braunen Haar übersehen. Ihren Mund-Nasen-Schutz traut sie sich erst abzunehmen, nachdem der Vorsitzende Richter sie ausdrücklich dazu aufgefordert hat. Als die Kammer sie sodann befragt, ob es sich bei ihr um die im April 1995 geborene Sandra M. handelt, bejaht sie das mit verhaltener Mädchenstimme.

Reiner Burger

Julia Schaaf

Julia Schaaf

Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Sandra M. muss sich wegen Mordes in einem Fall und Misshandlung von Schutzbefohlenen in acht Fällen vor Gericht verantworten. Ende April soll sie den Brustkorb der drei Jahre alten Greta in einem Kindergarten in Viersen mit voller Absicht so lange komprimiert haben, bis das kleine Mädchen einen Atemstillstand und schwere Hirnschädigungen erlitt. Am 4.Mai, einen Tag nach ihrem dritten Geburtstag, starb Greta in einer Klinik.

Nicht einmal schöpfte jemand Verdacht

Als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnahm, fand sie rasch heraus, dass es in allen Kitas, in denen Sandra M. seit 2017 während und nach ihrer Ausbildung gearbeitete hatte, zu ähnlichen Fällen gekommen war. Nicht einmal aber schöpfte jemand Verdacht, weil keines der Kinder starb, weil nichts auf Fremdeinwirkung hinzudeuten schien, weil ein Kind eine Lungenentzündung hatte, ein anderes an einem Herzfehler litt und auch, weil Sandra M. stets ihre Kolleginnen und den Rettungsdienst alarmierte. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft ging M. stets so vor – ob in Krefeld, Kempen oder Tönisvorst. In Krefeld musste dreimal der Notarzt kommen, um den kleinen Samuel zu retten, in Kempen rang der kleine Mohamed sogar viermal um sein Leben.

Als am Dienstag die Anklage verlesen und der erste Prozesstag schon nach wenigen Minuten zu Ende ist, steht Marie Lingnau vor dem Gerichtssaal im Scheinwerferlicht der Kamerateams. Sie ist die Nebenklageanwältin von Gretas Mutter. „Meine Mandantin sagt, sie lebt nicht, sondern sie existiert.“ Greta sei ein fröhliches, ein lebenslustiges Mädchen gewesen, das gerne in ihre Kita in Viersen ging. „Ihre Mutter erhofft sich in dem Prozess eine Erklärung dafür, warum Greta gerade an dem Ort, den sie so sehr mochte und an dem sie auch besonders beschützt war, sterben musste.“ Der Anwalt eines anderen Nebenklägers ergänzt, zu klären sei zudem, wie es möglich war, dass eine ausgebildete Erzieherin offenbar mehr als zweieinhalb Jahre lang bei der Arbeit absichtlich Kinder schädigen konnte.

1467 „besondere Vorkommnisse“ im Jahr 2019

Diese Frage treibt auch Lorenz Bahr um: „Konnten die Einrichtungen eigentlich darauf stoßen, dass da etwas Schlimmes durch Fremdeinwirkung passiert ist?“ Bahr ist Leiter des Landesjugendamts Rheinland, das als Aufsichtsbehörde für mehr als 6000 Kindertageseinrichtungen in der Region mit rund 350.000 Plätzen fungiert. Vorfälle, die das Kindeswohl beeinträchtigen könnten, müssen dem Amt gemeldet werden, und tatsächlich wurden 1467 solcher „besonderen Vorkommnisse“ im Jahr 2019 berichtet – das Spektrum reicht vom Schimmelbefall der Räume über Unfälle bis hin zu Übergriffen unter Kindern und Missbrauch.

Die Krankenwageneinsätze in Krefeld, Kempen und Tönisvorst allerdings wurden nicht gemeldet. Erst die Kita in Viersen informierte das Landesjugendamt, nachdem Greta im April 2020 in die Klinik gebracht worden war. Bahr sagt, hätten alle Einrichtungen die Einsätze gemeldet, hätte das Landesjugendamt zumindest eine Chance gehabt, ein Muster zu erkennen. Auch die Staatsanwaltschaft Kleve habe versäumt, Erkenntnisse über Sandra M. im Zusammenhang mit einer vorgetäuschten Straftat im Jahr zuvor weiterzuleiten. Tatsächlich hätte die junge Frau im Mai 2019 behauptet, sie sei in einem Waldstück am Niederrhein von einem Unbekannten mit einem Messer an der Wange verletzt worden. Der Mann habe auf einer schreienden Frau gelegen, der sie zu Hilfe geeilt sei. Eine Gerichtsmedizinerin kam jedoch nach eingehender Untersuchung zu dem Ergebnis, dass M. sich selbst verletzt haben musste, sich der Vorfall „definitiv nicht so ereignet“ habe. Die Frau gab das schließlich auch zu und versprach, professionelle Hilfe anzunehmen. Die Staatsanwaltschaft Kleve unterließ es pflichtwidrig, den Vorfall an das Landesjugendamt zu melden. „Hätten alle, die da nach dem Gesetz schon heute hätten zusammenwirken sollen, auch wirklich zusammengewirkt, dann wäre womöglich dieser Fall anders gelaufen“, sagt Bahr.

„Verkettung unglücklicher Tatsachen“

Keiner der betroffenen Kitas wirft er eine Verletzung der Meldepflicht vor. Lieber als von Fehlern spricht der Chef der Aufsichtsbehörde deshalb von einer „Verkettung unglücklicher Tatsachen“. Niemand sei schließlich auch nur auf die Idee gekommen, die Luftnot der Kinder als Folge von Übergriffen zu deuten – weder Fachkräfte noch Eltern, geschweige denn die herbeigerufenen Sanitäter und Ärzte. Auch Mediziner, so der Behördenchef, müssten deshalb künftig für Gewaltvorfälle in Kitas sensibilisiert werden. Was die Einrichtungen angeht, wünscht er sich bessere Meldeketten sowie – gesetzlich verpflichtend – Kinderschutzkonzepte.

Wie konnte Sandra M. überhaupt als Erzieherin arbeiten, nachdem ihr schon im Anerkennungsjahr die Eignung für den Beruf abgesprochen worden war? Trotz einer vernichtenden Praxis-Beurteilung habe sie ihren Abschluss bekommen, sagt der Leiter des Landesjugendamts: „Da wird man sich die Ausbildungs- und Prüfungsordnung nochmal genau angucken müssen.“ Auch später im Beruf sei Sandra M. als inaktiv, distanziert und wenig empathisch aufgefallen. Eine Kita beschloss deshalb, sie nicht mit den Kindern allein zu lassen. Eine andere kündigte ihr noch in der Probezeit. Der Fall zeige, sagt Bahr, wie wichtig aussagekräftige Zeugnisse seien, auch wenn Arbeitgeber nicht verpflichtet seien, diese zu prüfen. In keiner der Kitas allerdings habe man die junge Frau für gefährlich gehalten: „Ihre Defizite hatten eher etwas mit Passivität zu tun.“

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