Nachrichten

#Was er schreibt, ist immer richtig

Was er schreibt, ist immer richtig

„Dentelle“ ist ein französisches Wort für feinste Spitzenarbeit; es fiel im Pausengespräch beim Festival Berlioz in La Côte Saint-André und scheint ein weit nützlicherer Begriff zum Verständnis der Werke Hector Berlioz’ zu sein als Klischees wie „romantisch“, „gigantisch“ oder „bizarr“. Speziell auf delikate Passagen lenkte der Dirigent Valery Gergiev zusammen mit dem Orchester des Petersburger Mariinsky-Theaters den Blick bei der Aufführung der dramatischen Legende „La damnation de Faust“. Im „Ballet des sylphes“, dem Tanz der Luftgeister, nahm er Berlioz beim Wort, indem er die Dynamik des Orchesters minutiös zwischen zwei- und vierfachem Piano hielt. Das „Mouvement de Valse“ war hier kein gemütlicher Walzer, sondern eine gleichsam schwerelos balancierende, zärtliche Melodie, um den schlafenden Faust einzuwiegen.

Nicht weniger delikat das von Mephisto befohlene „Menuet des follets“ im dritten Teil — die kapriziösen, teuflischen Geister sollen Margarethe verderben. Mit seinem ungewöhnlichen, suggestiven Dirigierstil beflügelt Gergiev die Musiker zu Akkuratesse in Dynamik und Artikulation; Wiederholungen werden zum Ereignis. Die Sänger brauchen den Vergleich mit erstklassigen französischen Berlioz-Interpreten nicht zu scheuen: Ildar Abdrazakov als elegant-entschlossener Méphistophélès mit klarer Aussprache, die Mezzosopranistin Yulia Matochkina, die mit schönem, rundem Timbre gut mit der Solobratsche und dem Englischhorn in ihren Arien harmoniert, schließlich der junge Alexander Mikhailov mit der großen Tenorpartie als Faust. Als Sängertyp ein wenig phlegmatisch, verfügt Mikhailov über eine souverän geführte, feine Stimme von großer Kultur mit kleineren Abstrichen bei der Artikulation des Französischen. Doch das Publikum ist dankbar und „généreux“ — obwohl es gegen Mitternacht schon empfindlich kühl wird und die ganze Zeit Maskenpflicht besteht, bleibt es aufmerksam, applaudiert begeistert.

In der Generation der heute vierzigjährigen Dirigenten wird Berlioz vor allem von François-Xavier Roth immer wieder aufs Programm gesetzt. Der Komponist habe für das Orchester eine Revolution gebracht: „Meine beiden Berlioz-Lehrer, die Dirigenten Colin Davis und John Eliot Gardiner, haben mir immer wieder gesagt: ‚Was er schreibt, ist immer richtig.‘ Wenn er zum Beispiel im ‚Te Deum‘ acht Harfen vorschreibt, ergibt es Sinn — es ist keine exotische oder übertriebene Position“, berichtet er im Gespräch. In La Côte Saint-André führte Roth den zweiten Teil der „Trojaner“ auf, „Les Troyens à Carthage“. Er setzte dabei auf die Mischung aus einem jungen, hiesigen Orchester, dem Jeune Orchestre Européen Hector Berlioz – Isère, und Solisten internationalen Ranges, angeführt von der charismatischen Isabelle Druot als Königin Dido. Der deutsche Tenor Mirko Roschkowski sang den Aeneas ohne heldentenorale Attitüde, in eher leichter, französischer Manier. Mit seiner unprätentiösen, beweglichen Art des Dirigierens brachte Roth die innere Glut und rhythmische Dynamik der Partitur vorzüglich zur Geltung.

Dass das Département Isère es schafft, dieses feine Festival seit 1994 zu erhalten und mit großen Namen zu schmücken — François-Xavier Roth, John Eliot Gardiner, John Nelson, Laurence Equilbey —, liegt sicher mit an dem geistigen Enthusiasmus, der sich von der leidenschaftlichen Persönlichkeit des Komponisten selbst auf seine Fans, die „Berlioziens“, übertragen hat. Und es hat mit dem genius loci zu tun, dem friedlichen kleinen Städtchen in der hügeligen, fruchtbaren Landschaft des Dauphiné zwischen Lyon und Grenoble. Durch La Côte Saint-André führt die Pilgerroute nach Santiago de Compostela; Touristen gibt es kaum, dafür eine mittelalterliche hölzerne Markthalle, eine Wein- und zwei Buchhandlungen, eine Chocolaterie.

Dass Hector Berlioz’ Mutter sich hier abgeschieden von der Welt (in Grenoble) fühlte, dass sein Vater, Arzt und Besitzer stattlicher landwirtschaftlicher Ländereien und Gebäude, die heimatliche Erde liebte, kann man in den Briefen der Familie nachlesen. Sie werden in dem kostbaren Museum im 1680 erbauten Geburtshaus aufbewahrt. Das Musée Hector Berlioz ist der stille Mittelpunkt des Festivals, ein Ort der Dokumentation und der Ausstellungen. In den Porträts zeigt sich einer der berühmtesten, doch auch umstrittenen Künstler Europas. Aus den Briefen spricht ein scharfer Intellekt und durchaus weicher Mensch: Warum ihm die Eltern nicht selbst zu seinem Erfolg des Rom-Preises schrieben, fragt er 1830, weniger ungehalten, eher traurig. Und geradezu tragisch wirkt, dass sein erster geistiger Lehrer, der hochgebildete Docteur Berlioz, nie eine Note seines Sohnes gehört hat, seit dieser sich ernsthaft zum Komponieren entschieden hatte.

Just in diesen Tagen konnte das Musée zwei Briefe von übergeordneter Bedeutung erwerben: Der Pariser Komponist und Lehrer Le Sueur gratuliert Dr. Berlioz zum Erfolg seines begabten Sohnes und schreibt drei Seiten über die großartige Zukunft, auch finanziell, die nun vor Hector liege. Höflich und kurz antwortet der Vater, ihm gehe es nicht um Ruhm und Reichtum, sondern darum, dass das sittliche Verhalten Hectors „inmitten der Verderbnis“ rein geblieben sei und dass, dank Le Sueurs moralischem Vorbild, „mein Telemach ein stürmisches Meer ohne Schiffbruch habe durchfahren können“.

Das klingt geschraubt und uneigentlich, doch zeigt es eine tiefe, letztlich verbitterte Bewegung bei Louis Berlioz. Und eine Wahrheit dahinter bleibt, dass er es war, der seinem Sohn Hector (der Name!) die tiefe Neigung zu den Mythen der Antike einpflanzte, mit der späten Frucht der großen Antiken-Oper „Les Troyens“.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!