#Was hat ihn bloß so ruiniert?
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Wenn es so wäre, wäre es nur zu begrüßen: Das freie, unverkrampfte Sprechen über Liebe und Sex zwischen Männern sei heute kein Tabu mehr, sondern voll akzeptiert, las man zumindest in den jüngst erschienenen Besprechungen von Alan Hollinghursts Roman „Der Hirtenstern“. So hieß es etwa in der „Süddeutschen Zeitung“, das wichtigste Thema des Buches, schwuler Sex, sei in den Neunzigerjahren noch „tabubrechend“ gewesen, zu jener Zeit also, als „Der Hirtenstern“ in England erstmals erschien. Heute dagegen sei „offen gelebter Sex“, auch der zwischen Männern, „eben Teil des modernen Weltalltags“. Aus unserem Jahrzehnt betrachtet erscheine „The Folding Star“, so der Originaltitel, als „ausgeruhtes, großes Buch von unverkennbarer Meisterschaft“.
Auch der Deutschlandfunk hob in seiner Rezension hervor, Hollinghurst erzähle erfreulich offen von der Männerliebe. In seinem Roman finde sich „nichts dräuend Verschwitztes“, sondern „voller Ironie, gebildeter Anspielungen und Darstellungs-Souveränität“ komme schwule Sexualität bei ihm zur Sprache. Seine Literatur bilde darin den Gegensatz zu der „von heterosexuellen Rezensenten pflichtgemäß hochgelobten gekünstelten Treibhausprosa“ eines Josef Winkler, womit der DLF-Kritiker lustigerweise genau jene „reduktionistische Identitätspolitik“ betreibt, für deren Zurückweisung er Hollinghurst wenige Sätze zuvor noch ausdrücklich gelobt hat.
Logik eines Täters?
So entschieden man den Optimismus der zitierten Kritiker teilen möchte – bei der Aussage, dass die Sexualität, wie sie im „Hirtenstern“ zu Darstellung kommt, heutzutage einer „Poesie des Gewöhnlichen“ zuzurechnen sei, wie die SZ schrieb, muss man doch etwas stutzen. Liest man den über sechshundert Seiten starken Roman in Gänze, kann man zu einem ganz anderen Schluss kommen: Nämlich dass die Normalisierung eines Begehrens, wie es Hollinghurst imaginiert, alles andere als wünschenswert wäre – wobei die Frage nach Gleichgeschlechtlichkeit nicht einmal die entscheidende ist.
Schauen wir ins letzte Kapitel und dort wiederum auf den letzten Absatz. Edward Manners, der Erzähler des Romans, der gleichzeitig die Hauptfigur ist, erblickt den siebzehnjährigen Luc, seinen ehemaligen Nachhilfeschüler, auf einer Vermisstenanzeige. Was er sieht, beschreibt er so: „Seine Wangen waren eingefallen, die Augen vor Schmerz und Abwehr zusammengekniffen; ich spürte, er war seiner Schönheit beraubt; kaum hätte ich ihn den anderen Jungs um ihn herum vorgezogen. Er war ein Opfer geworden, dazu da, angestarrt und bedauert zu werden“. Was aber hat den Jungen derart ruiniert? Nun, der Roman gibt uns keine vollständige Antwort auf diese Frage, bis zum Ende hin bleibt alles etwas diffus. Die Haltung, mit der Edward den äußeren Zustand Lucs kommentiert, deutet aber immerhin auf eine wichtige Teilantwort hin.
Die Grenze überschritten
Blättern wir zurück an den Anfang des Romans. Edward ist ein erfolgloser Schriftsteller von dreiunddreißig Jahren, der kürzlich seine südenglische Heimat verlassen hat, um in einer namenlosen europäischen Kleinstadt als Privatlehrer Boden unter die Füße zu bekommen. Während er abends die Parks und Bars der Stadt durchstreift, auch und immer wieder auf der Suche nach Sex, sitzt er tagsüber mit Luc in dessen Kinderzimmer und erteilt ihm Englischunterricht. Von Anfang an ist er dem Teenager verfallen, stellt ihm heimlich nach und schreckt auch nicht davor zurück, ihm seine Unterwäsche aus dem Schrank zu stehlen. Als stünde es ihm zu, stürzt er sich in die „letzte verrückte Eskapade, bevor das Alter beginnt“. Den Einwand einer Freundin, Luc sei doch eigentlich noch ein Kind, jedenfalls viel zu jung für ihn, schlägt er zornig in den Wind: „Aber so was passiert, es passiert.“
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