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Welche Rolle spielt die Sportwissenschaft?

Zuletzt häuften sich, wieder einmal, Berichte über Machtmissbrauch im Sport. Vielfach wird von Athleten und Athletinnen berichtet, die unter sexualisierter Gewalt leiden, im Turnen, im Fußball, im Schwimmsport, national und international. Will man all das nicht als bedauerliche Einzelfälle abtun, ist die Frage nach Strukturen aufgeworfen, die solcherart Gewaltausübungen im Sport, analog zu den Kirchen und zu den Familien, begünstigen oder gar dazu einladen.

Daneben ist eine andere Form von Gewalt sichtbarer geworden, nämlich die Ausübung von physischer und psychischer Gewalt in Trainingssituationen. Es geht um Demütigungen, Bloßstellungen, Willensbrechungen, Medikamentenmissbrauch, Ignorieren von Verletzungen. Das US-amerikanische Frauenturnen mit den Trainern Béla und Márta Károlyi steht dafür geradezu sprichwörtlich.

Es ist nur ein sehr schwacher Trost, dass Aussagen von Betroffenen oft katalytische Wirkung für die weitere Aufdeckung solcher Gewalt haben. Ein Bericht bleibt selten allein. Deshalb geht es um Strukturen, nicht um Einzelfälle. Den Athletinnen ist nur akut, aber nicht einmal mittelfristig geholfen, wenn ausschließlich vermeintliche Einzeltäter aus dem Verkehr gezogen werden. Solche Strukturen kenntlich zu machen, ist die ausschlaggebende Präventionsaufgabe, die selbstverständlich alles andere als trivial ist.

Die drei Rollen der Sportwissenschaften

Ein einziger Aspekt dieser Aufgabe sei hier in etwas grelleres Licht gerückt: Welche Rolle spielen eigentlich die Sportwissenschaften? Wenig überraschend verbietet sich darauf eine pauschale Antwort. In aller Vorsicht lassen sich aber wohl drei Typen von Rollen unterscheiden.

Zum einen gibt es sportwissenschaftliche Expertise, die in die Aufdeckung gewaltaffiner Strukturen, und damit in die Prävention eingeht. Die Safe-Sport-Maßnahmen etwa wären ohne sportwissenschaftliche Forschung nicht möglich. Hierher gehört auch jene Einsicht, die die Sportwissenschaft und die Öffentlichkeit immer wieder daran erinnert hat, Missbräuche nicht als Einzelfälle, sondern als strukturelles Pro­blem zu behandeln – stellvertretend sei Karl-Heinrich Bette für den Bereich des Dopings genannt.

Ein zweiter Typus liegt mit jener Expertise vor, die von politischer und von sportverbandlicher Seite notorisch nicht zur Kenntnis genommen wird oder sogar offensiv despektierlich behandelt wird. „Wissenschaftlich“ ist dort ein Reizwort und synonym mit praxisfremd, Stichwort Laptop-Trainer. Ein jüngeres Beispiel aus der letzten Legislatur ist der Entwurf zu einem sogenannten Sportfördergesetz. Eine gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), des Fakultätentags Sportwissenschaft und der Deutschen Sporthochschule Köln vom Oktober 2024 opponiert eindringlich dagegen, dass sportwissenschaftliche Forschung und Lehre an Universitäten in einem Gesetz zur Förderung des Sports gar nicht erst auftaucht. Eine Antwort darauf steht aus.

Missbrauch im DDR-Sport: Wasserspringer Jan Hempel wurde von seinem Trainer über vierzehn Jahre sexuell missbraucht.
Missbrauch im DDR-Sport: Wasserspringer Jan Hempel wurde von seinem Trainer über vierzehn Jahre sexuell missbraucht.dpa

Der dritte Typus ist der delikateste. Mit ihm trägt die Sportwissenschaft selbst zur Aufrechterhaltung von Strukturen des Sports bei, die sich als hochproblematisch erweisen. Sehr plakativ: Für mehr oder weniger gut getarntes Doping benötigen die vermeintlich individuellen schwarzen Schafe ein Höchstmaß an sportmedizinischer Expertise. Auch die Sportpsychologie muss mit dem Verdacht leben, dass es ihr nicht um psychische Gesundheit, sondern um rechtzeitige Fitness für den nächsten Wettkampf gehe.

Allgemein gesprochen: Dieser Typus von Sportwissenschaft begreift sich als Magd der sportlichen Praxis, und auch dies ist keine Aussage zu einzelnen Personen, sondern zur Struktur der Sportwissenschaft. Diese Struktur wurzelt neben vielem anderen in einer Art vorauseilendem Gehorsam. Man nimmt sich selbst nicht qua Wissenschaft wichtig, sondern dann und dadurch, einen Beitrag zur Medaille oder zur Gesundheit der Leute geleistet zu haben. Der eigene Auftrag ist dann nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Reparatur vermeintlicher gesellschaftlicher Probleme.

Offene Türen für Wirtschaft und Militär

Diese Sportwissenschaft hat kein Pro­blem mit Auftragsforschung, weil sie sich selbst als Anwendungswissenschaft versteht. Diese Sportwissenschaft ist glücklich, wenn sie schnellere Schlitten baut, obwohl dafür das IAT (Institut für Angewandte Trainingswissenschaft) in Leipzig zuständig ist, das das „angewandt“ wenigstens im Namen trägt. Komplementär wird dann die Politik dafür kritisiert, diese Hilfsangebote nicht genügend nachzufragen.

Konsequenterweise stehen die eigenen Türen dem Eingriff von Wirtschaft und Militär sperrangelweit offen. Was der BVB mit Rheinmetall vorführt, konnte und kann solche Sportwissenschaft schon lange. Auch 2024 kann ein Sporthistoriker und Sportpädagoge in der Zeitschrift „sportunterricht“ einen „Brennpunkt“ mit „Kriegstüchtig“ betiteln und dazu aufrufen, dass Sport und Sportunterricht ihren Beitrag dazu leisten müssen. Und was spricht, wenn die Finanzen eng werden, schon gegen eine „Signal-Iduna-Sportuniversität“, außer der engen Verbundenheit von Sport und Sportwissenschaft?

Oft sind es vermeintliche Kleinigkeiten, die solche Türen öffnen. An der Deutschen Sporthochschule wird gerade das eigenständige Forschungsfeld Gesellschaft im eigenen Leitbild verschoben. Bisher eigenes Leitthema neben den Leitthemen Bildung, Gesundheit und Leistung, wird es nun im Namen des gesellschaftlichen Nutzens des Sports zum Querschnittsthema der anderen Forschungsfelder. Eine eigenständige Forschung, welche Gesellschaften welchen Sport fördern, ist dann nicht mehr von Relevanz.

Zwischen Dressurobjekt und Mündigkeit

Innerhalb dieses dritten Typus gibt es zwei Subtypen. Zum einen kann man die Rolle der Magd mehr oder weniger offen annehmen. Dann ist man, strukturell angelegt, nicht darüber gestolpert, dass die Physik keine Atomkraftwerke baut und dass die Sportwissenschaft keinen guten Sportunterricht bewirkt.

Die Bestimmung des zweiten Subtypus ist diffiziler. Generell gesprochen: Es gibt Grundannahmen des eigenen sportwissenschaftlichen Forschens, die den sporttreibenden Menschen als zu behandelndes Etwas unterstellen, und es gibt Grundannahmen des Forschens, die den sporttreibenden Menschen als Mündigen unterstellen.

Hier ist der Unterschied zwischen individuellem Vorwurf und Struktur alles entscheidend: Keine Sportwissenschaftlerin und kein Sportwissenschaftler meint, Sportler und Sportlerinnen seien zu dressieren. Im Gegenteil. Alle würden einen entsprechenden Vorwurf empört von sich weisen. Aber es gibt sportwissenschaftliche Theorien, die so etwas sagen.

Dort, wo sie eingesetzt werden, tragen diese praxiskurzschlüssigen Theorien zur Aufrechterhaltung jener Trainingsstrukturen bei, in denen der sportliche Erfolg wichtiger ist als das Menschenmaterial, heute: das Humankapital, das dabei verbraucht wird.

Die ehemalige Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz prangert „systematisches Versagen“ am Turnstützpunkt in Stuttgart an.
Die ehemalige Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz prangert „systematisches Versagen“ am Turnstützpunkt in Stuttgart an.SWR

Erinnert sei an den guten alten Behaviorismus. Diese Theorie unterstellt, man könne Menschen nach vorgegebenem Bilde formen. John B. Watson, einer seiner Begründer, war sich dessen maximal bewusst, und es lohnt sich deshalb, ihn immer wieder zu zitieren: „Geben Sie mir ein Dutzend gesunder Kinder, wohlgebildet, und meine eigene besondere Welt, in der ich sie erziehe! Ich garantiere Ihnen, dass ich blindlings eines davon auswähle und es zum Vertreter irgendeines Berufes erziehe, sei es Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder auch Bettler, Dieb, ohne Rücksicht auf seine Talente, Neigungen, Fähigkeiten, Anlage, Rasse oder Vorfahren.“

Heutzutage ist dieser robuste Behaviorismus aus der Mode gekommen, und man kann sich kostenlos und naserümpfend von ihm distanzieren. Aber Verhaltenstheorien sind heute in, während Nachfragen, ob oder wie diese Theorien das Erbe des Behaviorismus ausgeschlagen haben, weitgehend out sind. Ist es nicht der Nachfrage wert, ob Big-Data-Mustererkennungen nichts anderes sind als Watson 2.0? Ist der Einsatz solcher Mustererkennungen zur Formung sozial erwünschten Benehmens ein Problem, das es nur bei den anderen, etwa in China, Russland oder Nordkorea gibt?

Sehr viel spricht für den Einsatz von Verhaltenstheorien

Es gibt Verhaltenstheorien, zum Beispiel in der sportwissenschaftlichen Bewegungswissenschaft oder in der Sportpsychologie, die hochgradig reflektiert um die Reichweite ihres Einsatzes wissen. Sie wollen gewisse funktionale Zusammenhänge klären, und verweigern sich darüber hinaus offensiv der Zumutung, dass ihre Antworten auch andernorts gestellte, etwa sportpädagogische Fragen beantworten könnten.

Nichts spricht gegen, sondern sehr viel für solcherart Einsatz von Verhaltenstheorien. Aber eine pädagogische Situation, zum Beispiel eine Lehr-Lern-Situation im Training, ist kein funktionaler Zusammenhang. Wer die Eigenlogik des Pädagogischen ernst nimmt, kann weder meinen noch wollen, dass es darum geht, so lange und so feinjustiert an gewissen Schräubchen dieser Situation zu drehen, bis die Trainingsmaschine das gewünschte Ergebnis ausspuckt.

Die Turnerin Simone Biles machte im Januar 2018 öffentlich, dass sie durch den Teamarzt sexuell missbraucht worden ist.
Die Turnerin Simone Biles machte im Januar 2018 öffentlich, dass sie durch den Teamarzt sexuell missbraucht worden ist.REUTERS

Die Sportpädagogik scheint momentan kein Bollwerk gegen die Analyse funktionaler Zusammenhänge zu sein. Sie hat sich, Ausnahmen bestätigen die Regel, brav der Kompetenzorientierung verschrieben, weil eine Orientierung an Humboldt heute als zu idealistisch und zu normativistisch gilt, will sagen: mit der empirisch gesättigten Steuerung von Humankapital unvereinbar.

Dieses Theorieklima schlägt nun auch auf die Sportpraxis durch. Es gibt ein gemeinsames Statement vom Deutschen Turner-Bund (DTB) und Schwäbischen Turnerbund (STB) vom 31.12.2024 zu „Schilderungen über Missstände im deutschen Turnen“. In diesem Statement findet man einen maximal unscheinbaren, aber höchst beredten Satz: „Um die pädagogische Steuerung zu gewährleisten, wurden Workshops mit Sportpsycholog*innen absolviert.“ Ja, bitte noch einmal lesen: Um pädagogische Prozesse zu gestalten, wurde sportpsychologische Expertise eingesetzt.

Kleine gallische Dörfer?

Das kann man nur selbstverständlich finden, wenn man die Eigenlogik des Pädagogischen offensiv ignoriert. Beim DTB und beim STB ist angekommen, dass man pädagogische Prozesse ungestraft als funktionale Zusammenhänge modellieren darf. Das wiederum ist für alle Beteiligten funktional, denn dann gilt das Versprechen, dass man die „Steuerung“ pädagogischer Prozesse gewährleisten kann. Die ergriffenen Maßnahmen versprechen dann Effektivität, und die Wissenschaft bekommt einen Anschlussauftrag, denn sie muss im Nachhinein evaluieren, ob die Steuerung erfolgreich war.

Nach allem, was bekannt geworden ist, wissen die von psychischer Gewalt betroffenen Turnerinnen sehr gut, dass sie ein hartes und entbehrungsreiches Training auf sich nehmen und auf sich nehmen wollen, weil ihnen an ihrem sportlichen Erfolg gelegen ist und weil sie um die Liebe zu ihrem Sport wissen. Aufforderungen, jeden Tag mehrfach auf die Waage zu gehen, tun da keine Not.

Nach allem, was bekannt geworden ist, wollten sie stattdessen gelegentlich mal in den Arm genommen werden. Allein, es ist nicht ganz einfach und hoffentlich auch noch immer absurd, Umarmungen zu einer Variablen in funktionalen Zusammenhängen zu machen. Man kann nur hoffen, dass es noch kleine gallische Dörfer in der Sportpädagogik gibt.

Der Autor ist Leiter des Instituts für Pädagogik und Philosophie der Deutschen Sporthochschule Köln.

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