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#Wenn der Einkauf zur Ersatzreligion wird

„Wenn der Einkauf zur Ersatzreligion wird“

Filmfestivals brauchen Publikum, das machte solche Veranstaltungen in den vergangenen Jahren nicht einfach. Hatte Venedig 2021 noch versucht, die Massen zu Abstandsregeln zu erziehen, und die Kinoplätze begrenzt, ist in diesem Jahr alles wieder beim Alten: Abstandsregeln, Maskentragen und Teststationen sind nur noch optionale Einrichtungen für Vorsichtige.

Die mehrere Meter hohe graue Mauer, die im Vorjahr Fans und Neugierige davon abhalten sollte, den Festivalpalast zu belagern, ist auf publikumsfreundliche Hüfthöhe hinuntergestuft. Und das Gelände am Lido wirkt poliert und aufgehübscht, denn immerhin feiert „das älteste Filmfestival der Welt“ dieser Tage das neunzigste Jahr seit seiner Gründung. Da es nach der Premiere 1932 unter den italienischen Faschisten und durch den Zweiten Weltkrieg so einige Unterbrechungen gab, hat an diesem Mittwoch nun aber numerisch erst die 79. Ausgabe begonnen.

Der Eröffnungsfilm „White Noise“ passt zur Gedenkstimmung, denn auch er blickt zurück in die Vergangenheit, zieht sogar explizite Vergleiche von der Hitlerbegeisterung zur Massenhysterie moderner Gesellschaftsphänomene. Der New Yorker Regisseur Noah Baumbach hat Don DeLillos gleichnamigen Roman verfilmt, der zu Beginn der Achtzigerjahre in einem verschlafenen amerikanischen Städtchen spielt. Adam Driver, mit dem Wohlstandsbauch und den Stirnfalten des gutbürgerlichen Mittvierzigers, gibt einen Universitätsprofessor, der Hitler und den Nationalsozialismus als eigenständiges Studienfach pflegt. Seine Frau Babette (Greta Gerwig) unterrichtet Bewegungstherapie und kümmert sich sonst um die Patchworkfamilie, die aus so vielen Kindern besteht, dass sie im Supermarkt schon mal deren Namen vergisst.

Eine ihrer Töchter vermutet dahinter jedoch nicht einfach Schusseligkeit, sondern die Nebenwirkung eines Medikaments, das die Mutter sich seit Wochen heimlich in den Mund schiebt. Der Vater blendet dieses Verhalten zunächst aus, so wie er alle Bedrohungen seines friedlichen Kleinstadtlebens gern verdrängen will. Selbst als sich unweit des Hauses eine Umweltkatastrophe zusammenbraut, die immer größer und dunkler den Himmel verdeckt, leugnet er die Realität so lange, bis nur noch Hals über Kopf die Flucht angetreten werden kann.

Die pointierten Dialoge DeLillos bleiben unangetastet

DeLillos Roman ist stark an diesen Katastrophenleugner gebunden, erzählt das Geschehen aus seiner Perspektive, was sich für weniger kundige Filmerzähler bei der Umsetzung ins andere Medium schwierig gestalten könnte. Doch Baumbach macht diese Hürde zur Stärke seines Drehbuchs, behält die Perspektive bei, schneidet wie ein Schönheitschirurg mit dem Skalpell nur jene Szenen fort, deren Fehlen man am Ende kaum bemerkt, und verdichtet die Erzählung so zu einer Geschichte über die Beeinflussung von Massen durch Fehlinformationen und den Kult um Führerfiguren.

Zudem ist Baumbach klug genug, die pointierten Dialoge DeLillos nicht zu verändern. Es braucht dann nur sehr gute Schauspieler, um die Worte in all ihrer Schönheit, mit Tempo und vor allem dem Sinn für Humor auch so umzusetzen, dass sich die Situationskomik für die Zuschauer erschließt. Driver konnte bereits in Baumbachs Ehedrama „Marriage Story“, das 2019 hier in Venedig gezeigt wurde, unter Beweis stellen, dass er das Talent hat, vom Komischen nahtlos ins Dramatische zu wechseln. In einer Ehebeicht-Szene mit Greta Gerwig schließt er an die Schauspielhöhen aus „Marriage Story“ an, lässt die Fassade des egozentrierten Ehemannes in Tränen zerfließen.

Wenn er dann für eine Hitlerkonferenz heimlich Deutschunterricht nimmt und von seinem Lehrer mit Wörtern wie „Kartoffelsalat“ gequält wird, legt der Amerikaner solche Emphase in die kantigen Silben, das nicht nur ein deutschsprachiges Publikum lachen muss. Den Höhepunkt erreicht das mit Betonungsperlen wie dem Satz „Hitler hatte viele verschiedene Hunde“, den Driver verzweifelt auf Deutsch vorzutragen versucht. Es empfiehlt sich, diesen Film im Original zu schauen, sonst schluckt den Aussprachewitz wohl die Synchronisation.

Konsum in satten Farben

Mit „White Noise“ eröffnet zum ersten Mal ein Netflixfilm Venedig. Die Entscheidung unterstreicht noch einmal die Filmpolitik der Festivalleitung. Im Gegensatz zu Cannes umarmt man in Venedig die Prestigeproduktionen der Streamingfirmen. 2018 gewann der Netflixfilm „Roma“ von Alfonso Cuarón den Goldenen Löwen. Die großen Streamingdienste sind am Lido also gern gesehene Gäste, in diesem Jahr steuert Netflix zum Wettbewerb neben dem Eröffnungsfilm auch das Drama „Bardo“ von Oscargewinner Alejandro Iñárritu sowie die Literaturverfilmung „Blonde“ von Andrew Dominik und das Geschwisterdrama „Athena“ des Franzosen Romain Gavras bei.

Und da Filme auf Filmfestivals fürs Kino gezeigt werden, unterläuft Baumbach die Streamingästhetik geschickt, strickt seinen Abspann so, dass er nicht wie bei Netflix üblich einfach weggespult werden kann. Erst wenn die Namen der Filmschaffenden über den Bildschirm laufen, entfaltet sich noch einmal eine Choreographie, die den Inhalt des Films auf den Punkt bringt. Sie ergänzt eine Szene, in der kurz zuvor die gebürtige Bremerin Barbara Sukowa (neben Lars Eidinger als tablettenfutternder Wissenschaftler eine weitere deutsche Darstellerin in diesem Film) als Nonne einen Monolog über Glauben und Hoffnung hielt und den Amerikanern auf Deutsch den Satz hinwirft: „Ihr werdet eure Gläubigen verlieren.“

Religion hat in jener Welt längst nichts mehr mit den Kirchen zu tun. Baumbach zeigt den Konsum in satten Farben, der Einkauf wird zur Ersatzreligion, und Katastrophen, Umweltkrisen, Falschinformationen sind vergessen über den Heilsversprechen der Produkte. All das steckt bereits in DeLillos Roman aus dem Jahr 1985, „White Noise“ zeigt diese Themen aktueller denn je. Man hofft, dass dieses Festival ähnlich stark weitergeht.

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