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#Wer von hier losfährt, nimmt Flüchtlinge mit

„Wer von hier losfährt, nimmt Flüchtlinge mit“

In Przemysl nahe der polnischen Ostgrenze opfern sich die Menschen auf, ach was: Sie zerreißen sich förmlich. Die zahlreichen freiwilligen und haupt­beruflichen Helfer aus aller Welt, die sich um die noch weit zahlreicheren ukrainischen Flüchtlinge kümmern, sie mit Essen, Schlafplätzen und Informationen ver­sorgen, arbeiten Tag für Tag am Limit und noch darüber hinaus. Die meisten von ihnen sind im Tesco im Einsatz, einer leer stehenden Mall, in der nun Hunderte Menschen, ausschließlich Frauen und Kinder, eine erste Zuflucht gefunden haben. Von hier aus hoffen sie weiterzukommen, zu Verwandten in Polen oder anderswo, zu Freunden. Irgendwohin.

Jörg Thomann

Redakteur im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Dabei helfen ihnen die Freiwilligen. In einem Raum gleich am Eingang kann sich melden, wer eine Mitfahrgelegenheit an­bietet. Das ist das Mindeste, was ich, der Journalist, tun kann: Die zweieinhalb Stunden nach Krakau allein im Mietwagen zurückzufahren würde sich in dieser Situation völlig falsch anfühlen. An den Wänden mahnen Zettel die Flüchtlinge, worauf sie achten sollen, um nicht dem Falschen in die Finger zu fallen: Fotografieren Sie den Fahrer und das Autokennzeichen, und schicken Sie die Bilder an Bekannte; weigert er sich, fahren Sie nicht mit. Steigen Sie zu ­niemandem ins Auto, der müde ist.

Wen nimmt man mit?

Junge Frauen und Männer an Computern registrieren Personalausweise, Autokennzeichen und die Zahl der ­Plätze. Die Frau nebenan, ebenfalls aus Deutschland, möchte gleich 44 Personen mitnehmen, sie fährt einen Bus. Wer registriert ist, bekommt ein orangefarbenes Bändchen ums Handgelenk und die Anweisung, sich im Gang an einen Helfer mit Megafon zu wenden oder direkt zu dem Raum zu gehen, der für Flüchtlinge mit dem passenden Reiseziel vorgesehen ist. Jemand mit Megafon ist nicht zu sehen, also auf zu Raum Nummer 14.

Wie wählt man aus, wen man hier mitnimmt? In Przemysl hoffen viele auf eine Gelegenheit zur Weiterreise.


Wie wählt man aus, wen man hier mitnimmt? In Przemysl hoffen viele auf eine Gelegenheit zur Weiterreise.
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Bild: AP

Davor und darinnen sind Dutzende Menschen. Junge Frauen, ältere Frauen, große und kleine Kinder, manche mit schweren Reisetaschen, andere nur mit Tüten. Wie soll man die Mitreisenden aus der Menge herauspicken, wen nimmt man mit, und wen lässt man stehen?

Ratlos begebe ich mich zurück zum Eingang, wo ich im Gewimmel einen Helfer in orangefarbener Weste ent­decke. Er habe, sagt der Mann, der aus Norwegen kommt, hier tatsächlich gerade drei Leute, die nach Krakau möchten: drei alte Damen, deren umfangreiches Gepäck – in einer Ecke steht auch ein Rollstuhl – ich skeptisch be­trachte. Doch die Kommunikation ist schwierig, wie generell in diesem babylonischen Sprachgewirr, ich spreche kein Ukrainisch und Russisch, die Seniorinnen kein Englisch, Deutsch und Polnisch, auch der Norweger kann nicht helfen. Irgendwann wird klar, dass die Frauen auf einen Bus gehofft haben, sie winken dankend ab und verabschieden sich freundlich.

Google-Übersetzer hilft

Vor dem Raum Nummer 14 hat sich ein Österreicher eingefunden, der acht Plätze anbietet und noch zwei zu ver­geben hat; wir beschließen, uns zusammenzutun. Schnell sind wir umringt von mehreren Frauen und Kindern, ist es eine Großfamilie, sind es mehrere kleine? Wiederum ist die Verständigung schwierig. Eine ältere Frau signalisiert Inter­esse, es sei aber noch jemand auf der Toilette; wie viele es sind, bleibt offen, und wer die Schlange vor der einzigen Toilette hier gesehen hat, der weiß: Es kann lange dauern.

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Irgendwann erscheint eine junge Frau mit ihrem Sohn, vielleicht acht Jahre alt, doch die Sprachbarriere bleibt. Schließlich gebe ich auf dem Handy bei Google-Übersetzer den Satz ein „Ich habe ein normales Auto und kann vier Menschen mitnehmen“ und tippe auf „Ukrainisch“. Die junge Frau liest und lächelt. Es passt. Auch der Österreicher hat seine Fuhre zusammen.

Dann auf zum Auto. Mit der jungen Frau, ihrem Sohn und ihrer Mutter sowie einer Bekannten, die wie die Familie aus Kiew stammt, kennengelernt haben sie sich aber erst im Zug nach Lemberg. Diese Frau, nennen wir sie Anastasia, spricht Englisch, ein Gespräch ist nun möglich. Sie ist Übersetzerin und Lehrerin für Italienisch und will von Krakau weiter zu Freunden in Italien oder Spanien, die sie jeweils im Urlaub kennengelernt hat. Sie erzählt von den Kiewer Kellern, in denen sie saß, von den leeren Geschäften, welche die Menschen zuletzt zwangen, untereinander Lebensmittel zu tauschen, und vom Alkoholverbot, das die Ukrainer davon abhalten soll, unvorsichtig zu werden.

Wie hat sie ausgewählt, was sie in ihren einzigen Koffer packt? Sie habe ihre beste Kleidung mitgenommen, sagt Anastasia, schließlich wisse sie nicht, wie ihre Wohnung aussehen werde, wenn sie zurückkehre. Zurück will sie auf jeden Fall, nach zwei Monaten fern von zu Hause bekomme sie Heimweh. Und dann erzählt sie von ihrer Mutter und wie sie diese bedrängt habe, mit ihr zu kommen, doch die alte Frau wollte in ihrer Wohnung in Kiew bleiben.

Als wir den Krakauer Stadtteil Kazimierz erreichen, das alte jüdische Viertel mit seinen Synagogen und Foodtruck-Plätzen, wo sich das von ihnen ausgewählte Hostel befindet, sind die Ukrainerinnen entzückt. Es sei fast so schön hier wie daheim in Kiew, sagt Anastasia und fügt hinzu: so schön, wie Kiew einmal gewesen ist. Dann gehen die vier ins Hostel. Ich fahre zum Flughafen und reise von dort zurück in ein wohlgeordnetes deutsches Leben.

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