Wissenschaft

#»Wir müssen fragen – und zuhören«

Am Lebensende werden Menschen altruistisch, sagt der international renommierte Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Die Behandelnden sollten das stärker berücksichtigen.

Das Gespräch führte SUSANNE DONNER

Herr Prof. Borasio, welchen Stand hat die Palliativmedizin in der Gesundheitsversorgung?

Die Palliativmedizin ist in vielen Ländern Europas dabei, ein selbstverständlicher Teil des Gesundheitssystems zu werden. Vor allem mit den Teams der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV), die Menschen am Lebensende zuhause betreuen, ist hierzulande die Versorgung erheblich verbessert worden. Denn Menschen wollen in der Regel ihre letzte Lebenszeit zuhause verbringen und nicht im Krankenhaus. Übrigens rede ich lieber von „Palliative Care“ als von „Palliativmedizin“. Dieser englische Ausdruck ist unübersetzbar und hat sich eingebürgert, denn er beinhaltet mit dem Begriff „care“ das liebevolle Kümmern um einen leidenden Menschen.

Wie kann Palliative Care den Patienten helfen?

Es gibt drei Mythen, mit denen wir aufräumen müssen: Palliative Care findet nicht nur am Lebensende statt, sie betrifft nicht nur Krebspatientinnen und Krebspatienten, und sie ist nicht nur Schmerztherapie. Tatsächlich ist eine palliative Mitbetreuung umso erfolgreicher, je frühzeitiger sie beginnt – gerade bei Patienten, die nicht an Krebs versterben und oft längere Krankheitsverläufe haben, zum Beispiel bei Demenz. Nur ein Viertel aller Menschen stirbt an Krebs. Und Schmerztherapie wiederum macht nur etwa ein Sechstel der ganzheitlichen Palliative Care aus. Eine Gleichsetzung von Palliativmedizin und Schmerztherapie ist daher falsch und nützt nur der Pharmaindustrie – die diese irreführende Gleichstellung kräftig propagiert.

Palliativ-Teams arbeiten interdisziplinär. Warum ist das wichtig?

Die Begründerin der Palliative Care, Dame Cicely Saunders, hat das Konzept des „total pain“ eingeführt: Leiden ist nie nur physisch, sondern immer auch psychisch, sozial, existenziell und spirituell. Wir brauchen deshalb in der Palliative Care Fachkräfte aus den Bereichen Medizin, Pflege, Psychologie, soziale Arbeit und der spirituellen Begleitung. Dieser ganzheitliche Ansatz sollte für die gesamte Medizin gelten, denn ein kranker Mensch ist ein Mensch und kein krankes Organ. Und was die Forschung betrifft, wissen wir noch sehr wenig über die psychosozialen und spirituellen Aspekte am Lebensende: was Menschen sich noch erhoffen, was ihnen wichtig ist, woraus sie noch Lebensqualität schöpfen. Über Opioide wissen wir dagegen sehr viel. Deshalb haben wir zu Lebenssinn, Dankbarkeit und Spiritualität geforscht und befassen uns aktuell mit dem Altruismus am Lebensende.

Über den Interviewpartner

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©picture alliance/Erwin Elsner
Gian Domenico Borasio (*1962) forscht an der Universität Lausanne und ist Chefarzt der Abteilung Palliative Care am Universitätsspital Lausanne. Sein erstes populärwissenschaftliches Buch „Über das Sterben“ veröffentlichte er 2011.

Man könnte meinen, dass kranke Menschen am Lebensende um sich selbst kreisen, zumal, wenn sie nicht mehr mit uns sprechen können. Was besagt Ihre Forschung?

Das Gegenteil ist der Fall. Am Lebensende werden Menschen altruistisch. Für fast alle ist das Wohlergehen anderer, insbesondere der Familie, am wichtigsten. Sie machen sich viele Gedanken darüber, wie es ihren Familien ergehen wird, wenn sie gestorben sind. Und viele schauen mit Dankbarkeit auf ihr Leben und möchten noch am Lebensende etwas zurückgeben. Sie fragen sich zum Beispiel: „Was bleibt von mir bei meinen Zugehörigen in Erinnerung?“ Manche haben das Bedürfnis, etwas von ihrem Leben aufzuschreiben.

Was bedeutet es für das Sterben, wenn Menschen vor dem Tod sich mehr auf ihre Nächsten beziehen, als mit sich selbst beschäftigt zu sein?

Viele Sterbende sind etwas frustriert, weil sie ihren Altruismus nicht ausleben können. Unsere Aufgabe ist es daher, diese altruistische Motivation besser zu verstehen, um zu wissen, wie wir unseren Patienten bei deren Umsetzung helfen können. Das tun wir gerade mit unserem interdisziplinären Forschungsprojekt „Understanding altruism at the end of life“ (Altruismus am Ende des Lebens verstehen), in welchem diese Frage aus medizinischer, psychologischer, pflegerischer, ethischer und soziologischer Sicht beleuchtet wird. Im Einzelfall kann das noch naheliegend sein: Der 35-jährigen Mutter zweier Kinder, die eine schwere Krebserkrankung hat, sind ihre Schmerzen gleichgültig – sie denkt nur an das Wohlergehen ihrer Kinder nach ihrem Tod. Das ist übrigens eine Situation, in der die wichtigste Berufsgruppe im Palliativteam die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind.

Haben Sie erste Ideen, was älteren Menschen helfen könnte, ihren Altruismus auszuleben?

Wir haben in München und Lausanne einen Wahlpflichtkurs für Studierende eingeführt, in dem jeweils zwei Medizinstudierende zu Palliativpatienten nach Hause gehen. Sie haben keinen Auftrag und sollen einfach nur einige Zeit mit den Betroffenen reden. Ein Teilnehmer hat uns einmal geschrieben, dieser Kurs habe seinem Medizinstudium einen Sinn gegeben. Wir haben die Patienten gefragt, ob die Treffen nicht zu belastend waren. Sie sagten uns: „Nein, das war wunderbar, und ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, dass diese jungen Leute vielleicht bessere Ärzte werden.“ Viele sagten auch: „Wenn ich nächstes Jahr noch lebe, mache ich gerne nochmal mit.“ Das ist eine Form von Altruismus, und zugleich stellt es eine sinnstiftende Aufgabe für die Menschen am Lebensende dar.

Wie gehen Sie methodisch vor, um das altruistische Lebensgefühl bei verschiedenen Menschen genauer zu charakterisieren?

Wir befragen die Patienten und deren Angehörige. Und analysieren auch die Patientenverfügungen, denn für diese ist Altruismus eine wichtige Motivation. Menschen möchten ihren Angehörigen ersparen, dass sie schwere Entscheidungen treffen müssen. Oder sie möchten ihnen ersparen zu leiden, wenn das Leben unnötig verlängert wird. Das ist also altruistisch, weil sie ihre Angehörigen nicht belasten wollen. Altruismus spielt folglich auch bei Entscheidungen zur Bitte um Suizidhilfe eine Rolle. Diesen Bereich werden wir demnächst ebenfalls untersuchen. Zudem werden wir Pflegende fragen, wie sie altruistische Äußerungen ihrer Patienten erleben, was das für sie bedeutet und wie sie darauf reagieren. Wir werden auch Interaktionen von Ärztinnen und Ärzten und Patienten aufzeichnen und herausfiltern, was sich für altruistische Äußerungen darin verstecken. Dafür nutzen wir qualitative Methoden aus der Soziologie.

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