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World Press Photo Award zeichnet russische Propaganda aus

Am Abend nach der Bekannt­gabe der ersten Gewinner der World Press Photo Awards (WPPA) sitzt die ukrainische Kuratorin Kateryna Radchenko in einem Restaurant im Zentrum von Kiew. Schweigend scrollt sie durch die Liste. „That’s a fucking bullshit“, murmelt ein spanischer Kriegsfotograf gegenüber am Tisch. Radchenko lächelt schwach. Sie ist enttäuscht und ratlos.

Ihre Entscheidung steht da schon fest: Die diesjährige WPPA-Ausstellung in der Ukraine wird nicht stattfinden. Radchenko, Gründerin der Odesa Photo Days und langjährige lokale Ausstellungspartnerin des Wettbewerbs, war 2022 selbst Jurymitglied des renommierten Preises. Doch dieses Jahr trägt sie die Auswahl nicht mit.

Erstmals seit Beginn des Angriffskriegs wurden wieder russische Fotografen ausgezeichnet – darunter ein langjähriger Mitarbeiter der staatlichen Agentur TASS. Ausgerechnet seine Reportage über regierungskritische Proteste in Ge­orgien fand Anerkennung. Zwei weitere Arbeiten mit Russlandbezug sorgen ebenfalls für Kritik.

„Fokus auf die Erzählung der ‚russischen Seele‘“

Der ukrainische Fotografenverband zeigte sich überrascht, dass „der Wett­bewerb Fotografen auszeichnet, die die staatliche Ideologie der Russischen Föderation ausdrücken“. So werde die Position des Aggressors sichtbar gemacht und statt verurteilt, „Mitgefühl mit ihm betont“. Die letztjährige ukrainische Preisträgerin Julia Kochetova kritisiert den „Fokus auf die Erzählung der ‚russischen Seele‘ unter den diesjährigen Gewinnern“.

Ein auf der TASS-Website veröffentlichtes Interview mit dem ausgezeich­­neten Fotografen der Agentur zeigt dessen Haltung: Die georgische Polizei habe bei den Protesten nur leichtes Tränengas eingesetzt, auch Demonstranten hätten Feu­erwerkskörper verwendet, betont er. Bereits 2022 habe er Bilder aus Mariupol für den World Press Award eingereicht – entstanden während der „Befreiung“, wie Mikhail Tereshchenko die russische Zerstörung der ukrainischen Stadt nennt. Als eingebetteter Fotograf begleitete er die russischen Truppen beim Vormarsch.

Die Fotografin Nanna Heitmann inszeniert den verletzten russischen Soldaten wie einen sterbenden Christus.
Die Fotografin Nanna Heitmann inszeniert den verletzten russischen Soldaten wie einen sterbenden Christus.World Presse Photo Award

Für Mariam Nikuradze ist diese Auszeichnung ein Affront. Die georgische Reporterin berichtet seit Monaten aus dem Zentrum der Proteste in Tiflis. „Ein Fotograf von TASS – ausgezeichnet als Dokumentar des Protests gegen russischen Einfluss? Das ist empörend“, sagt sie am Telefon im Gespräch mit der F.A.Z., während sie gerade von einer abendlichen Demons­tration in der georgischen Hauptstadt berichtet. „TASS verbreitet systematisch Des­information über die Proteste in Georgien.“

Gegen Nikuradze läuft ein Ermittlungsverfahren, sie wurde verletzt, zu Geldstrafen verurteilt. Zahlreiche georgische Medienschaffende wurden in den vergangenen Monaten Opfer direkter Gewalt – so­wohl durch Polizeikräfte als auch durch vermummte Schlägerbanden. Kolleginnen wie Mzia Amaghlobeli sitzen in Haft. Ihr drohen bis zu sieben Jahre Gefängnis. Der georgische Fotograf Guram Mudarow schrieb auf Instagram: „Diese Entscheidung ist respektlos – gegenüber uns und gegenüber allen, die in Georgien für ihre Freiheit kämpfen.“ Die Anonymisierung des WPPA-Auswahlverfahrens lässt Nikuradze nicht gelten: „Spätestens am Ende muss klar gewesen sein, wer hinter der Ar­beit steht. Und trotzdem wurde nicht reagiert.“

Neben der Auszeichnung des TASS-Propagandisten stößt auch eine kuratorische Entscheidung der WPPA-Jury auf Kritik: Zwei Einzelaufnahmen wurden bewusst miteinander kombiniert – auf der einen liegt ein verwundeter russischer Soldat auf einem improvisierten OP-Tisch in Bachmut (Foto der in Moskau lebenden Ulmer Fotografin Nanna Heitmann), auf der anderen ein ukrainisches Kind, das eine Panikattacke durchlebt (Foto des Tegern­seers Florian Bachmeier). Die Jury attestiert dem Bild des russischen Soldaten eine „komplexe symbolische Bedeutung“, die „Fragen zu Nationalität und politischen Spaltungen aufwirft“. Die Kombi­nation beider Aufnahmen ermögliche ei­nen „tieferen, nuancierteren Blick auf ei­nen Konflikt mit weitreichenden globalen Auswirkungen“.

Eine Manipulation, die russisches Guiltwashing betreibt

Kuratorin Radchenko kritisiert die Ge­genüberstellung: „Visuell gibt es eine Art Spiegelung. In beiden Bildern liegen Menschen da, sie kämpfen – körperlich oder seelisch – mit den Auswirkungen des Krieges. Aber das Kind ist ein Opfer. Der Soldat hat sich entschieden, in ein fremdes Land zu kommen und zu töten. Wegen ihm leidet das Kind.“

Auch der ukrainische Fotograf Serhii Korovayny kommt in einem viel beachteten Facebook-Beitrag zu einer anderen Einschätzung als die Jury: „Aus meiner Sicht ist das eine unempathische, oberflächliche, durch formale Ähnlichkeit konstruierte Manipulation, die den ‚einfachen Russen‘ – Soldaten wie Zivilisten – von der Verantwortung für den russischen Angriffskrieg entbindet. Eine Manipulation, die russisches Guiltwashing betreibt und die im Kontext eines willentlich geführten Krieges der russischen Föderation maximal unangebracht ist.“

Zudem werfen die Produktionsbedingungen, unter denen das ursprünglich in der „New York Times“ erschienene Foto des russischen Soldaten von Heitmann entstand, bei vielen in der Ukraine tätigen Kriegsfotografen Fragen auf. In besetzten Gebieten sind Recherchen ohne Genehmigung russischer Behörden kaum möglich. „Natürlich beeinflusst eine Zusammenarbeit mit dem FSB den Blickwinkel“, sagt Radchenko. Dass im Originalartikel der „New York Times“ auch der Name Anastasia Trofimowa als Mitwirkende auftaucht, fügt sich stimmig in diese kritische Lesart. Die frühere Dokumentarfilmerin des kremlnahen Senders Russia Today stand in der Ukraine wegen ihres Films „Russians at War“ massiv in der Kritik: Darin inszeniere sie russische Soldaten als bemitleidenswerte Figuren – während die Perspektive der Opfer und eine historische Einordnung des Krieges weitgehend fehlten.

Auf den Bildern des russischen Fotografen Mikhail Tereshchenko erscheinen die Demonstranten, die sich in Tiflis gegen die moskauhörige Regierung in Georgien wenden, als  Gewalttäter.
Auf den Bildern des russischen Fotografen Mikhail Tereshchenko erscheinen die Demonstranten, die sich in Tiflis gegen die moskauhörige Regierung in Georgien wenden, als Gewalttäter.World Press Photo Award

Auch die dritte prämierte Arbeit mit Russlandbezug – die Serie „It Smells of Smoke at Home“ von Aliona Kardash – sorgt für Diskussionen. Die ursprünglich für den „Stern“ entstandene Arbeit der russischen, in Hamburg lebenden Foto­grafin dokumentiert melancholisch den Alltag ihrer Familie im westsibirischen Tomsk. Zwischen Fotos von Swimmingpools, Kartoffelernte und der Putin wählenden Großmutter finden sich Gräber russischer „Verteidigungskräfte“ und Wagner-Söldner. Der begleitende Text bleibt am­bivalent, spricht schemenhaft von einer „psychologischen Loslösung des modernen Russlands von der Realität“. Ein Foto, das Kardash gemeinsam mit ihrer Schwester zeigt, wird von der Bildunterschrift begleitet, sie habe „nie mit ihr über den Krieg gesprochen“ und wisse nicht, „wie es sein muss, einen Sohn in Russland während des Krieges großzuziehen“.

„Das ist ein wirklich schön fotografiertes Projekt, keine Frage“, sagt Oksana Parafeniuk, während sie durch die Bilder der Serie scrollt. „Und natürlich hat sie das Recht, diese Arbeit zu machen und sie zu nennen, wie sie will.“ Die ukrainische Fotografin, deren Aufnahmen zum russischen Angriffskrieg in zahlreichen internationalen Medien erschienen, sitzt am Küchentisch ihrer Wohnung im Kiewer Stadtteil Podil. Von hier floh sie zu Beginn des Angriffskriegs, im sechsten Monat schwanger, nach Polen, als Kiew erstmals bombardiert wurde und russische Truppen vor der Hauptstadt standen.

„Aber für mich – als Ukrainerin und als Fotojournalistin – ist das schwer zu er­tragen. Was will uns diese Arbeit eigentlich sagen? Es wirkt, als ob sie etwas an ihrer Familie stört, aber sie lieber nicht mit ihr über den Krieg spricht, um die Verbindung zu ihr nicht abreißen zu lassen. Ist das wirklich der Fokus, den wir heute brauchen? Wenn sie vom Verlust des Zuhauses spricht, während ich täglich die Geschichten von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern höre, deren Häuser tatsächlich zerstört oder besetzt wurden?“

Am Ende ist es die Zusammenschau der drei prämierten Arbeiten, die vielen schwer erträglich erscheint: Melancholie statt Einordnung, Symbolik und Raunen statt eindeutiger Kontext. Eine Auf­wertung der russischen Seite – begleitet von kuratorischen Kommentaren, die in einem unbestimmten Raum verharren. Ohne Klarheit über Schuld, Gewalt und die Produktionsbedingungen. Für viele in der Ukraine ist diese Mischung alles andere als neutral.

World Press Photo reagierte teilweise auf die Kritik. Man distanziere sich von der Formulierung „Befreiung Mariupols“ durch den TASS-Fotografen, erkenne den russischen Angriffskrieg ausdrücklich als solchen an. Ein eigens einberufenes Gremium prüfe nun mögliche Regelverstöße. Auch eine Aberkennung des Preises sei denkbar. Die Kritik an den weiteren Arbeiten weist die Organisation unter Verweis auf Jurybegründungen zurück. Man sei sich der Realität staatlicher Propaganda bewusst, doch auch unter schwierigen Bedingungen könnten bedeutende Arbeiten entstehen.

Kateryna Radchenko bereitet sich da bereits auf ihre Reise nach Berlin vor, wo sie in der Jury eines Fotopreises von C/O Berlin sitzt. Im westukrainischen Lemberg hat sie gerade eine Ausstellung in Kooperation mit Magnum Photos eröffnet. „Viele Kolleginnen sagen bereits, man könne World Press Photo nicht mehr trauen. Ich finde das zu radikal. Wir befinden uns mitten in einem grundlegenden Wandel. Auch World Press Photo muss überdenken, wie wir nicht nur technische Manipulation prüfen. Wir müssen lernen, narra­tive Verzerrungen zu erkennen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Denn sie werden zunehmen.“

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