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#Zufriedenheit, fast Jubel

Zufriedenheit, fast Jubel

Was empfand wohl der Mensch, der den ganzen Weg zum Mond mitflog, diesen aber dann nicht betreten durfte, weil er das Raumschiff für den Rückflug hüten musste? So erging es 1969 bekanntlich Michael Collins. Während Neil Armstrong und Buzz Aldrin den „großen Schritt“ taten, kreiste er an Bord der Columbia um den Erdtrabanten und hatte bei jeder Umrundung für 46 Minuten und 38 Sekunden weder Blick- noch Funkkontakt zur Erde.

Jan Wiele

Genauso lang dauert nun das Konzeptalbum „Mondenkind“ des Jazzpianisten Michael Wollny, dem die geschilderte Anekdote als Inspiration dient. Man könnte denken, dass nach dem fünfzigjährigen Jubiläum der Mondlandung 2019, das im vergangenen Jahr auch manche künstlerische Auseinandersetzung hervorgebracht hat, diese Platte ein bisschen spät erscheint. Aber wenn man einen Blick auf Wollnys Werk wirft, erscheint sie vielmehr als folgerichtige Fortsetzung eines lange zuvor aufgenommenen Themas, ja vielleicht seines Grundthemas, so wie es schon in „Weltentraum“ (2013) oder „Nachtfahrten“ (2015) darin begegnet.

Wie diese Alben ist das vorliegende eins der Versenkung, bei dem auch der Hörer nach kurzer Zeit jeglichen Blick- oder Funkkontakt zur Außenwelt abstellen wird, weil die Musik ihre Rezeptionshaltung fast automatisch mit hervorbringt: Es ist die des entrückten Starrens, sei es auf den Mond oder in die Leere. Also sitzt man schon nach 49 Sekunden des schillernd-trillernden Auftaktstücks „Lunar Landscape“ mit im Schiff und hört bei „Things Behind Walls“ in den abgedämpften Bassläufen aus Wollnys „prepared piano“ Aliens von draußen an die Luke klopfen, die irgendwie auf dem Weg nach Dixieland sind, diesen aber nicht recht finden, wie einige sehr fern daran erinnernde Akkorde verraten.

Wollnys oft auch von anderen Künsten beflügelte Musik scheint in „The Rain Never Stops on Venus“ eine Erzählung des Science-Fiction-Autors Ray Bradbury vertonen zu wollen. Im Titelstück wird sie dann sogar zur Programmmusik, wenn die rechte Klavierhand mit einem regelmäßig auf den hohen Tasten angeschlagenen Reibeklang das Funksignal imitiert, das man gemeinhin Satelliten, hier aber Collins’ im Mondorbit kreisendem Schiff zuordnen möchte. Auch „Spacecake“ scheint programmatisch zu sein, indem es wilde (drogeninduzierte?) Raketen in die Tasten feuert. Die Mondromantik treibt Wollny mit einer „Sonatine“ Hindemiths dann aus, holt sie aber bei einigen Popmusik-Anverwandlungen, etwa von Tori Amos, zumindest teilweise wieder zurück.

Wie ein thematisches Komplementäralbum zu Wollnys wirkt das des schweizerischen Debütanten Luzius Schuler. Es trägt den wunderschönen Titel „Moon is the Oldest TV“, der seinerseits auf nachbarkünstlerischer Inspiration beruht: So hieß auch schon eine Installation des Medienkünstlers Nam June Paik, die Schuler in Paris sah. Im Gegensatz zu Wollny, der eine Studio-Liveaufnahme ohne Overdubs vorlegt, ist Schulers minimalistisches Solopianospiel nur die Basis für ein Klanggewebe, das laut Selbstauskunft „synthetischen Sound, Noise, Granularsynthese und Field Recordings zusammenführt“.

„Moon is the Oldest TV“. Ronin Rhythm Records RON 025 (Galileo)


„Moon is the Oldest TV“. Ronin Rhythm Records RON 025 (Galileo)
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Bild: Ronin Rhythm Records

Aus dem weißen Rauschen taucht hier zuerst „Tango Island“ auf. Diese Insel beherbergt einen Wald aus Arpeggien, die bezeugen, dass das Album „nachts auf einem ramponierten Pianino“ komponiert wurde, dann aber wird der analoge Wald überwuchert von digitalem Dickicht, bis diesem der Geist einer Melodie entschwebt. Auf „Nocturno“ geht das Pianino irgendwann in Orgeln unter, aus denen dann aber, als die Nacht fast schon ausgesickert ist, noch ein erstaunlich bodenständiger Beat aufersteht. Schuler erzeugt Perkussivität manchmal auch durch die übersteuerte Aufnahme, wie man bei „Round Dance“ hört: Nicht nur das Anschlagen der Tasten, auch das Loslassen verursacht ein Geräusch, mit dem sich Rhythmus erzeugen lässt. Die klangliche Vergrößerung ist ein treffendes Bild für die Empfindungen, die in der Irrationalität der Nacht manchmal auch stark vergrößert erscheinen. Was man sich schließlich unter „The Schwoon“ vorzustellen hat, bleibt dunkel, aber das Stück erinnert wohl nicht zufällig an „swoon“ („Ohnmacht“) und reimt sich auf „moon“.

In diesem Jahr drängt sich freilich die Frage auf, ob einsame Mondbetrachtung das Sinnbild der Lockdown-Mentalität darstellt. Wollny hat zu den Aufnahmen seines Albums erzählt, wie er über eine leere Autobahn nach Berlin fuhr, in einem Hotel ohne Personal nächtigte und sich schließlich allein in die Tonkabine begab. Aber so treffend sich darin das Thema noch verdoppelt, ist der Lockdown andererseits doch normale Wirklichkeit jeden Ganges ins Tonstudio, und vor allem ist er auf der Rezipientenseite nicht nur eine Strafe, sondern eine Chance: die nämlich, sich in seinem Leben Räume zu schaffen, in denen nichts zwischen einen selbst und den angestarrten Mond dringt, der Sinnbild für so vieles sein kann. Und sehr bewusst zitiert Wollny in den Liner Notes zu seinem Album, Collins habe als „einsamster Mensch aller Zeiten“ Zufriedenheit, fast Jubel verspürt.

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