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#Zwei Frauen von der Front

Zwei Frauen von der Front

Die Krankenschwester Iya Tsvylyova hat neben ihrem offiziellen Namen noch einen weiteren: Man nennt sie „Dylda“, „Bohnenstange“, wegen ihrer ungewöhnlichen Größe und ihrer Gestalt. In der Straßenbahn überragt sie fast alle anderen Menschen um einen Kopf und ein Paar Schultern. Im Herbst nach dem Großen Vaterländischen Krieg, wie man in Russland den Deutsch-Sowjetischen Krieg bezeichnet, arbeitet Iya in einem Hospital in Leningrad. Sie kümmert sich um kriegsversehrte Männer und ist dabei selbst nicht minder betroffen: Noch immer, viele Monate nachdem sie für invalid erklärt wurde, erstarrt sie gelegentlich ohne erkennbaren Grund und mitten in der Bewegung. Sie ist dann für eine Weile weit weg, reglos und nicht ansprechbar. Vermutlich ist sie in diesen Momenten wieder inmitten eines der Artilleriegefechte, die sie bei der Luftabwehr erlebt haben muss. Dort hatte sie Dienst getan, bis die Traumatisierung zu stark wurde.

Iya hat auch ein Kind aus dem Krieg zurückgebracht. Der kleine Pashka ist aber nicht ihr eigener Sohn, sie behütet ihn für ihre Freundin Masha, die länger an der Front geblieben war und die nun, zu Beginn des Films „Bohnenstange“ von Kantemir Balagov, aus Berlin in die Heimat zurückkehrt. Iya und Masha sind durch ihre gemeinsamen Erlebnisse im Krieg verbunden. Sie sind die beiden Heldinnen in einem Kriegsfilm, wie es noch kaum einmal einen gegeben hat. Denn Kantemir braucht keine einzige Explosion, keine Rückblende auf eine Schlachtszene, kein schwarzweißes Wochenschau-Bild, um eine Ahnung von den Katastrophen zu geben, mit denen der Sieg im Jahr 1945 erkauft war. Er verschließt alles in den schmächtigen Leib der „Bohnenstange“ und in die verzweifelte Liebesgeschichte zweier Frauen, die in ihrem Innersten nicht mehr wissen, wer sie sind. Und das ist ganz wörtlich zu nehmen, im anatomischen Sinn.

Kantemir Balagov fand die Idee zu seinem Film in einem Buch der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch: „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Von den Erfahrungen von Frauen im Krieg, die dort gesammelt wurden, nimmt er so etwas wie eine Essenz. Er geht mit den Erinnerungen von Iya und Masha, die sich im Verlauf der zweieinviertel Stunden von „Bohnenstange“ allmählich erschließen, auch auf den Kern der Mythologie, die den Krieg noch und gerade auch wieder im heutigen Russland umgibt: dass er eine große, heroische, kollektive Opferleistung war, vor der selbst etwaige andere Vorwürfe gegen den Generalissimus Stalin zu schweigen haben. Iya und Masha sind in diese Erzählung nicht zu integrieren. Sie verkörpern die Wahrheit, dass auch ein gerechter Krieg mit grauenhaften Mitteln geführt wird und dass die Helden an den Waffen zugleich Unmenschen sein können, wenn sie zwischendurch nach Befriedigung für ihren Geschlechtstrieb suchen.

Genau die richtige Perspektive

Wie in vielen analytischen Dramen steht am Beginn von „Bohnenstange“ ein Augenblick des scheinbaren Gleichgewichts. In dem Krankenhaus, in dem Iya arbeitet, herrscht eine fast gelöste Stimmung. Noch ist die Versorgungslage schwierig, aber der Frieden lenkt den Blick nach vorn. Wunden heilen, Übungen helfen, sich mit verlorenen Gliedmaßen zurechtzufinden. Der melancholische Chefarzt Nikolay Ivanovich weiß aber auch, wo jede Hilfe umsonst ist. Bei einem Stepan kann er mit der Nadel überall hinstechen, der spürt nichts. Als seine Frau Tanya kommt, wird deutlich, dass eine Rückkehr in den Alltag für Stopka, wie er zärtlich genannt wird, nicht denkbar ist. Und Nikolay steht vor der Frage, ob er gegen seinen Eid handeln soll. Es ist schließlich Iya, die ihm zur Seite steht.

Kantemir Balagov filmt diese frühe Schlüsselszene auf eine Weise, dass sich Leben und Tod schon hier charakteristisch verschränken: Ein Mann und eine Frau in Großaufnahme, zwischen ihnen der Rauch einer letzten Zigarette, der Atem erstirbt in der Erinnerung an den billigsten Genuss, den ein Soldat an der Front sich leisten konnte, ein Stumpen Tabak. Auch in nahezu jeder weiteren Szene findet Balagov genau die richtige Perspektive.

Ausdruck am Rande der Erstarrung

„Bohnenstange“ ist erst sein zweiter Film, und schon zeigt sich hier eine der größten Begabungen im derzeitigen Weltkino – ein genuiner Erzähler in Bildern und Tönen. Balagov ist eindeutig ein Ästhet. Immer wieder lässt er Iya aussehen, als wäre sie eine Figur aus einem Gemälde von Vermeer, und ab und zu könnte man für einen Moment den Eindruck haben, die prächtigen Farben und die sorgfältig dem Geist der damaligen Epoche angeglichenen Kostüme und Dekors seien vielleicht doch einfach zu schön für diese Geschichte.

Aber auch in dieser Hinsicht gilt, was „Bohnenstange“ als Film vor allem ausmacht: Der Moment, in dem Krieg in Frieden übergeht, wird bis an den Rand der Unerträglichkeit gedehnt. Bei allem Drama deutet Balagov allerdings durchaus so etwas wie eine gemeinsame Überwindung der Traumata an. Die Schönheit des Films bekommt einen historischen Aspekt, denn es geht nicht zuletzt darum, dass 1945/46 auch die Sowjetunion die Chance auf einen Neubeginn hatte. Balagov lässt allerdings wenig Zweifel daran, wie er den Fortgang der Geschichte einschätzt. In zwei entscheidenden Szenen ist es eine aristokratisch auftretende kommunistische Spitzenfunktionärin, die den Erfahrungen von Iya und Masha geradezu Hohn spricht.

Bei aller Brillanz der Inszenierung wird man von „Bohnenstange“ aber vor allem zwei Frauen in Erinnerung behalten: Viktoria Miroshnichenko und Vasilisa Perelygina sind großartig in den Hauptrollen. Beide haben über den Film verteilt jeweils etwa nur zehn Sätze Dialog, auf die es ankommt. Der Rest ist Ausdruck am Rande der Erstarrung, ein virtuoser Versuch, der inneren Leere („I am meaningless inside“, sagt Iya einmal laut den englischen Untertiteln) mit dem Pathos eines Schmerzes zu begegnen, für den gerade das kommunistische Propagandakino große Beispiele bietet. „Bohnenstange“ aber lässt alle Ideologie zerbrechen und setzt an die Stunde null zwei bebende Frauen.

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