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#Zwölf Wochen Schweigen

Zwölf Wochen Schweigen

Ihr Mann hatte das Ultraschallbild schon von der Kühlschranktür genommen und wollte es gerade wegschmeißen, aber Anna protestierte. „Das ist doch unser Kind!“ Auch wenn die Gedanken daran wehtaten, auch wenn es physisch nichts mehr gab, was sie begraben konnte – die Erinnerungen jedenfalls wollte sie nicht einfach so entsorgen. Anna hatte eine Fehlgeburt erlitten, in der elften Woche, und sie rief mich an, um mir davon zu erzählen. „Vielleicht willst du mal darüber schreiben“, sagt sie, die nur ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Ich wusste gar nicht, dass du wieder schwanger warst“, sage ich. – „Natürlich nicht. Man soll es ja in den ersten drei Monaten auch keinem sagen.“

Jetzt will Anna reden, um zu verarbeiten und zu verdauen, sie will den Schmerz über den Verlust eines noch gar nicht fertig entwickelten Babys verstehen, in ihren Träumen und Gedanken war das Kind schließlich schon viel größer und älter, da war es mal ein Junge, mal ein Mädchen gewesen. Ich will ihr helfen und höre zu. Aber ich denke auch: Warum wusste ich nichts von der Schwangerschaft?

Die ersten Wochen einer Schwangerschaft sind eine heikle Angelegenheit. Manche wissen das gar nicht: Ziemlich viele Frauen, die schwanger werden, verlieren ihr Kind, meist, weil der Embryo nicht überlebensfähig gewesen wäre. Ungefähr jede sechste Schwangere macht das durch. Darum raten Ärzte dazu, in den ersten zwölf Wochen nur dem engsten Umfeld von der Schwangerschaft zu erzählen. Dahinter steckt der Gedanke: Eine Fehlgeburt ist schon schmerzhaft genug, oder jedenfalls kann sie das sein. Wenn die Schwangerschaft nie bekannt war, muss die Frau sich nicht durch womöglich retraumatisierende Gespräche quälen. Das ist gut und richtig so.

Als sei nie etwas gewesen

Dahinter steckt aber noch ein anderer Gedanke, und je mehr Frauen in meinem Umfeld mir von Fehlgeburten erzählen, mal laut und selbstbewusst und verzweifelt wie Anna, mal verschämt oder beiläufig oder einfach nur traurig, desto stärker wird mein Gefühl, dass dieser Gedanke überwiegt: Frauen, nervt uns nicht mit euren Kinder-, nein Kinkerlitzchen! Ein Kind, das nie geboren wurde, ist es nicht wert, betrauert zu werden, ihr könnt weiter funktionieren und niemanden mit euren deprimierenden Verlustgeschichten behelligen. Macht das bitte unter euch aus!

Das ist vielleicht etwas überspitzt formuliert, doch immer, wenn ich mit Menschen in meinem Umfeld, die selbst nicht in Familienplanung involviert sind, über das Thema Fehlgeburt oder Sternenkinder spreche, schauen sie ganz bedröppelt und ahnungslos drein. Vor allem Männer sind erstaunlich uninformiert darüber, welche Verlusterfahrungen viele Frauen so mit sich herumschleppen. Und einfach weiter zur Arbeit oder zum Sport oder zu Verabredungen kommen, versteht sich.

Die zwölf Wochen Schweigen führen nämlich dazu, dass Frauen, die ein Kind verlieren, hinterher einfach wieder zum Status quo zurückkehren können – gerade so, als sei nie etwas gewesen. Gerade so, als hätten sie nicht geblutet und gebetet und geweint. Gerade so, als hätte sich ihr Leben nicht für immer verändert.

Eine Fehlgeburt ist noch immer ein Tabuthema

Die zwölf Wochen Schweigen führen außerdem dazu, dass Frauen sich viele, viele Ausreden und Lügen einfallen lassen müssen. Die berühmte Morgenübelkeit etwa tritt vor allem in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft auf und erschwert einen gewöhnlichen Alltag. Schwangere sind zu Beginn oft müde, in vielen Fällen auch verwirrt, weil sie nicht wissen: Wie soll ich das alles schaffen? Wen soll ich ins Vertrauen ziehen? Wann sage ich es wem? Und wie wird sich mein Leben nun verändern?

Es bleibt selbstverständlich jeder selbst überlassen, über den Zeitpunkt des Schweigenbrechens zu entscheiden, viele benötigen auch gerade diese ersten Wochen, um sich zu sortieren, einen Plan zu machen, wie eine Schonfrist. Doch zwölf Wochen Schweigen verordnen, damit Frauen die Gesellschaft nicht mit toten Babys belästigen – das ist einfach falsch. Frauen sollen fruchtbar sein und Kinder bekommen. Nur mit der Trauer der Frauen (und Männer!) nach einer Fehlgeburt will keiner was zu tun haben. Darum hilft nur eins: Schafft das Schweigen ab!

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