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#Älteste Menschenfossilien nördlich der Alpen

Wann erreichten die ersten Vertreter des Homo sapiens Mitteleuropa? Die ältesten bekannten Funde unserer Menschenart stammten bisher aus der Balkanregion. Doch nun belegen rund 45.000 Jahre alte Knochenfragmente aus der Ilsenhöhle in Thüringen, dass unsere Vorfahren schon früher als gedacht auch das Gebiet nördlich der Alpen besiedelten. Obwohl das Klima damals noch arktisch kalt war und die Landschaft einer Kältesteppe glich, lebten und jagten dort bereits kleine Gruppen des Homo sapiens. Dies belegt, dass sich unsere Spezies besser und früher an das europäische Eiszeitklima angepasst hat als bisher gedacht. Zudem enthüllen die neuen Analysen, dass eine spezielle Form von Steinwerkzeugen, das sogenannte Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician, nicht vom Neandertaler, sondern vom Homo sapiens geschaffen wurde.

Vor rund 45.000 Jahren bahnte sich ein folgenreicher Wechsel in Europa an: Eine neue Menschenart, der Homo sapiens, wanderte aus Afrika über den Nahen Osten und den Balkan nach Europa ein und löste den zuvor dort ansässigen Neandertaler ab. Doch wann genau die ersten Vertreter unserer Vorfahren nach Europa kamen, ist erst in Teilen geklärt, weil nur eine Handvoll Fossilien des Homo sapiens aus dieser Zeit in Europa gefunden wurden, der größte Teil von ihnen in Südosteuropa. Zu den ältesten bekannten Fundstücken zählen etwa 45.000 Jahre alte menschliche Knochenreste aus der Bacho-Kiro-Höhle in Bulgarien sowie ein knapp 41.000 Jahre alter Kieferknochen aus der Pestera cu Oase, einer Höhle in Rumänien. Unklar blieb aber, ob diese frühen Homo-sapiens-Vertreter damals schon weiter nach Norden vordrangen. Ebenfalls strittig war die Zuordnung einiger klingenförmiger, teilweise beidseitig bearbeiteter Steinwerkzeuge, die in Tschechien, Polen, Deutschland und Großbritannien gefunden wurden. Dieser sogenannte Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Technokomplex (LRJ) stammt aus der Übergangszeit vom Neandertaler zum Homo sapiens. Doch welcher von beiden diese Werkzeuge schuf, ließ sich bisher nicht eindeutig feststellen.

Knochenstück
Dies ist eines der rund 45.000 Jahre alten Knochenstücke des Homo sapiens aus der Ilsenhöhle. © Tim Schüler TLDA CC-by- nd 4.0

Spurensuche in der Ilsenhöhle

Jetzt geben neue Funde in einer Höhle in Thüringen Antworten auf einige dieser Fragen. Die Ilsenhöhle nahe des Orts Ranis im Orla-Tal ist schon seit den 1930er Jahren als Fundort von LRJ-Steinwerkzeugen, Tierknochen und auch menschlichen Fossilien bekannt. Schon damals wurden in der Kalksteinhöhle Ausgrabungen durchgeführt. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Tim Schüler vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie in Weimar hat nun die Bodenschichten der Höhle erneut untersucht. Ziel war es, nach Relikten früherer Bewohner dieser Höhle und damit den potenziellen Erschaffern der LRJ-Werkzeuge zu suchen und die Funde zeitlich genauer einzuordnen. „Die Herausforderung der Grabung bestand darin, eine komplette acht Meter mächtige Sedimentsequenz zu untersuchen und dabei die Schichten des LRJ zu identifizieren. Es war auch gar nicht klar, ob nach den Ausgrabungen in den 1930er Jahren noch ausreichend fundführende Sedimente vorhanden waren“, berichtet Co-Seniorautor Marcel Weiss von der Universität Erlangen-Nürnberg.

Doch die mühevolle Arbeit hatte Erfolg: „Glücklicherweise trafen wir auf einen 1,7 Meter mächtigen Felsblock, unter dem damals nicht gegraben wurde“, berichtet Weiss. „Nachdem wir diesen Versturzblock des ehemaligen Höhlendaches in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert hatten, konnten wir die wichtigen Schichten des LRJ erreichen, die auch menschliche Knochenfragmente enthielten. Das war eine große Überraschung.“ Die Knochen waren jedoch in so kleine Stücke zerbrochen, dass eine anatomische Zuordnung nicht möglich war. Das Team nutzte daher eine Kombination aus Proteom-Analysen, DNA-Vergleichen und Isotopenanalysen, um die Funde zu charakterisieren. Es zeigte sich, dass die winzigen Knochenstückchen von vier verschiedenen Individuen stammten – allesamt Vertreter des Homo sapiens. In Neuanalysen von alten, bei der früheren Ausgrabung entdeckten Knochenfragmenten identifizierte das Team neun weitere Individuen.

Besiedlung schon vor 45.000 Jahren

Doch wie alt sind diese Funde? Um das herauszufinden, datierten die Forschenden die menschlichen Knochenfunde sowie Tierknochen aus den verschiedenen Fundschichten mithilfe der Radiokarbondatierung. Dabei zeigte sich, dass die mit den Menschenknochen und den LRJ-Werkzeugen assoziierten Fundschichten zwischen 43.360 und 47.500 Jahre alt sind und damit aus derselben Zeit und von derselben Menschenart stammen. „Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von modernen Menschen stammen“, erklärt Hublin. Eine genetische Datierung mithilfe von Vergleichen mitochondrialer DNA aus den Menschenknochen lieferte ein ähnliches Ergebnis: „Die genetischen Daten der mtDNA-Genome aus Ranis liegen zwischen 49.105 und 40.918 Jahren vor heute“, berichtet das Team um Erst-Autorin Dorothea Mylopotamitaki vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Damit gehören die Knochenfunde aus der Ilsenhöhle zu den ältesten bekannten Relikten des Homo sapiens in Europa – und es sind die frühesten Zeugnisse der Präsenz unserer Vorfahren nördlich der Alpen. „Die Fundstelle in Ranis erbrachte den Beweis für die erste Ausbreitung von Homo sapiens in die nördlichen Breiten von Europa“, sagt Hublin. „Das verändert unser Wissen über die Übergangsperiode fundamental, da nun klar ist, dass anatomisch moderne Menschen das nordwestliche Europa erreichten, lange bevor die Neandertaler in Südwesteuropa verschwanden.“ Als die ersten Vertreter des Homo sapiens Mitteleuropa erreichten, begegneten sie demnach wahrscheinlich auch noch Gruppen des Neandertalers. Die DNA-Vergleiche enthüllten zudem, dass die Menschen aus der Ilsenhöhle eng miteinander verwandt waren und interessanterweise auch mit dem ebenfalls 45.000 Jahre alten Menschenfossil der „Frau aus Zlaty kun“ in Tschechien. Den Forschenden zufolge legt dies nahe, dass die damals bis nach Mitteleuropa vordringenden Menschen eng mit den ersten Populationen des Homo sapiens in Südosteuropa verknüpft waren.

Schon früh an die Kälte angepasst

Ergänzende Analysen von Tierknochen und Isotopen lieferten auch Hinweise darauf, mit welchen Klimabedingungen diese ersten Homo-sapiens-Gruppen in Mitteleuropa konfrontiert waren. Demnach herrschte damals ein sehr kaltes Kontinentalklima, es war im Schnitt fünf bis 15 Grad kälter als heute. Die Landschaft war von einer offenen Kältesteppe geprägt, ähnlich denen im heutigen Sibirien oder Nordskandinavien. „Bisher ging man davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedingungen erst mehrere tausend Jahre später entstand. Somit ist unser Ergebnis durchaus überraschend“, sagt Sarah Pederzani vom MPI für evolutionäre Anthropologie, Erstautorin einer begleitenden Studie zum Paläoklima im Gebiet der Ilsenhöhle. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass selbst diese frühen Homo sapiens-Gruppen, als sie sich über Eurasien ausbreiteten, schon in der Lage waren, sich an solch raue klimatische Bedingungen anzupassen.“ Die Tierknochen aus der Ilsenhöhle legen nahe, dass die Menschen damals wahrscheinlich vor allem Jagd auf größere Eiszeittiere wie Rentiere, Wollnashörner und Pferde machten.

Zusammengenommen sind diese Funde und Ergebnisse ein wichtiger Durchbruch für die Rekonstruktion der Besiedlung Europas durch unsere Vorfahren. „Die Resultate aus der Ilsenhöhle in Ranis haben unsere Vorstellungen über die Chronologie und Besiedlungsgeschichte vom Europa nördlich der Alpen fundamental verändert“, sagt Schüler. Dies sei ein Meilenstein bei der Erforschung der frühesten Vorstöße von Homo sapiens nach Mittel- und Nordeuropa während des Übergangs vom Mittel- zum Jungpaläolithikum.

Quelle: Dorothea Mylopotamitaki (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig) et al., Nature, doi:
Nature, 31 January 2024, doi: 10.1038/s41586-023-06923-7; Sarah Pederzani (MPI für evolutionäre Anthropologie/ Universidad de La Laguna) et al., Nature, doi: 10.1038/s41559-023-02318-z

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