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#Angriff auf den Mythos

Angriff auf den Mythos

Die Geschichte von Martin Eden könnte man als Märchen so erzählen: Ein Seemann trifft auf eine Prinzessin. Sie verlieben sich, doch die Standesunterschiede lassen sich nicht so einfach überwinden. Der Seemann unternimmt alles, um sich seiner Angebeteten würdig zu erweisen. Er wird reich und berühmt, verliert jedoch die Prinzessin und endet im Meer.

Geschichten mit einem vergleichbaren Verlauf gibt es viele, man kann darin eine naive Form eines Konflikts sehen, den heute viele zwischen Identität und Klasse sehen wollen. In der Liebe erkennt man sich selbst, doch in der gesellschaftlichen Schicht der Prinzessin erkennt man sich selbst als den, der man (sozial) nicht ist. In Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons Roman „Martin Eden“ ist es eine grammatische Form, in der sich der Unterschied zwischen dem Seemann und der Prinzessin zuerst zeigt: Er verwendet ein Verb in einem Nebensatz im Indikativ. Er müsste aber „indicasse“ sagen, einen Konjunktiv verwenden, um sich als geschliffener Sprecher des Italienischen zu erweisen.

Seemann trifft Prinzessin

Die große Lernfähigkeit von Martin Eden zeigt sich darin, dass er bei Tisch bei der Familie Orsini, wenige Minuten später, schon fehlerfrei konjugiert. Den Seemann, den Neapolitaner in sich, wird er aber trotzdem nicht so schnell los, da kann ihn Elena Orsini noch so bedingungslos lieben.

Für Pietro Marcello wird eines der Hauptwerke des amerikanischen Schriftstellers Jack London zu einem Schlüssel zur italienischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Und zwar nicht im engeren Sinn einer Abfolge von Ereignissen, sondern mit Blick auf Konstellationen, die vor dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg erkennbar waren und sich bis in die Gegenwart nur unwesentlich verändert haben: Der vorgebliche Liberalismus einer besitzenden Klasse steht dem einfachen Leben der Kleinbürger und an der „periferia“ gegenüber, das eigentliche Italien wird von einer verfeinerten oder dekadenten Klasse beherrscht. Marcello wechselt den Schauplatz, bei London war es Oakland an der amerikanischen Westküste, im Film ist es ein stark typisiertes Neapel, die Stadt, in der das profunde Italien sich selbst erkennen könnte.

Ein Italien, das in seiner Alltagssprache die Laute eher vernuschelt, als sich in einem klaren und transparenten Idiom zu äußern. Marcello wechselt aber auch noch in einer anderen Hinsicht den Schauplatz.

Von London nach Neapel

Er überträgt einen Roman in die Sprache des Kinos, und zwar auf eine Weise, die weit über das hinausgeht, was man gemeinhin eine Adaption nennt. Denn in seinem „Martin Eden“ wird das Kino selbst in seiner Geschichtlichkeit ein Schauplatz: mit zahlreichen Aufnahmen aus Archiven und mit Anspielungen auf die Ästhetik von Stummfilmen lässt Marcello seinen Helden, der unbedingt Schriftsteller („scrittore“) werden möchte, zu einer genuin kinematographischen Figur werden.

2019 hatte „Martin Eden“ in Venedig Premiere. Danach geriet der Film in die Warteschleife, die durch die Pandemie erzwungen wurde. Aber da war bereits klar, dass man es mit einem echten Ereignis zu tun hatte. Nationalkinos werden ja oft nach dem Bild von Erbschaften betrachtet. Deutschland zum Beispiel wird international immer noch gern als das Filmland gesehen, das im Werk von Rainer Werner Fassbinder seine bedeutendste Ausprägung gefunden hat. Und seither sucht das Weltkino nach einem neuen Fassbinder.

Ein Intellektueller des Kinos

In Italien ist Pier Paolo Pasolini die analoge Figur: ein Intellektueller des Kinos, der viele Synthesen zwischen populärer und radikaler Form ausprobiert hat, der aber auch die Bourgeoisie und das Subproletariat, den Mythos und die Vernunft aufeinanderprallen ließ. Pietro Marcello erwies sich vor allem mit seinem Film „Bella e perduta – Eine Reise durch Italien“ (2015) als jemand, der Pasolinis Anliegen in genuin neue Formen zu überführen vermochte.

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