Nachrichten

#Archäologie der Gefühle

Archäologie der Gefühle

Wie Gesine Cresspahl es tut, lese ich jeden Tag Zeitung. Was ihr die New York Times ist, ist mir die Frankfurter Allgemeine, die ich vielleicht nicht mit ganz so viel Enthusiasmus wie sie, insgesamt aber gerne lese. Gesine kauft sich ihr Exemplar jeden Tag von Neuem am Kiosk, ich habe mich für die bequemere Variante entschieden und kriege meine Ausgaben von Montag bis Samstag bis vor die Haustür geliefert. Da ich nie geplant habe, Abonnent einer Zeitung zu werden, ist mein Briefkasten noch immer nicht dafür ausgelegt. An er­eignisreichen Tagen, an denen die ­Zeitung sehr dick ist, muss der Postbote sie mit Gewalt in den Briefkasten pressen, und wenn es regnet, kommt es nicht selten vor, dass die Ausgabe nass wird und die Druckerschwärze auf den Seiten zerläuft. Auf dem durchnässten Papier von den Überschwemmungen im Ahrtal zu lesen hat ein Gefühl in mir ausgelöst, für das ich noch nach dem richtigen Wort suche.

Gesine studiert ihre Ausgabe meistens in der U-Bahn zur Arbeit. Ich stelle mir vor, wie sie, die Zeitung waagrecht gefaltet, dicht gedrängt zwischen den Fahrgästen durch den New Yorker Untergrund schaukelt, was ihr einiges an Geschicklichkeit abverlangen muss. Ich dagegen lese meine Zeitung beim Frühstück. Dabei besteht die größte Herausforderung darin, dass ich während meiner Lektüre seit fünf Monaten hin und wieder ein Baby im Arm haben darf. Ist meine Tochter bei mir, meine Marie, die nicht Marie heißt, lege ich die Unter­arme, auf denen das Baby liegt, mit an­gewinkelten Ellbogen auf der Tischplatte ab und beuge mich vornüber zur Zeitung, um so lange zu lesen, wie es mir meine Tochter erlaubt.

Literatur kann komplexe Sachverhalte erfahrbar machen

In diesen spezifischen Positionen, Gesine in der U-Bahn, das Baby und ich ineinander verschachtelt am Tisch, liest die eine im Jahr 1967 von einem verworrenen Krieg in Vietnam, von Übergriffen auf People of Color und dem Erstarken der Bürgerrechtsbewegung, einer in zwei Blöcken geteilten Welt; und der andere im Jahr 2021 von einem verworrenen Krieg in Afghanistan, von Black Lives Matter, von radikalisierten Querdenkern, die Angestellte an Tankstellen erschießen, und von den Verfehlungen der Armin Laschets und Anna­lena Baerbocks, während ein diebisch lächelnder Olaf Scholz danebensteht, der mit meiner Tochter gemein hat, dass sie sich dieselbe Frisur teilen.

Zwischen Gesine und mir liegen gut fünfzig Jahre. Wir leben in verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern, in denen wir in verschiedenen Sprachen in verschiedenen Zeitungen lesen. Dazu kommt, dass Gesine eine Romanfigur ist und ich nicht, zumindest glaube ich keine zu sein, was aber von all den Unterschieden, die es zwischen uns gibt, mit Sicherheit der unwesentlichste ist. Wichtiger ist, dass wir, obwohl wir verschiedene historische Konstellationen bewohnen, uns beide einen Reim darauf zu machen versuchen, was in der Welt um uns und in der Welt in uns passiert. Darum lesen wir Zeitung. Darum erzählen wir.

Eine Historiographie der Psyche und des Bewusstseins

Ich glaube, dass eine der Qualitäten von Literatur darin besteht, komplexe Sachverhalte erfahrbar zu machen. Zum Beispiel, was es bedeutet, im Jahr 1967 in den Vereinigten Staaten zu leben und vom alten Zuhause zu lesen, dem man entkommen ist, dem geteilten Deutschland der Nachkriegszeit, während das neue Zuhause auf einem anderen Kontinent Krieg führt. Oder was für ein Gefühl es auslösen könnte, mit einem Baby im Arm von den vergangenen und den gegenwärtigen, vor allem aber den kommenden Katastrophen zu lesen: den Unwettern, die sich häufen, all den Klimas, den meteoro­logischen genauso wie den gesellschaftlichen, die sich von Tag zu Tag weiter erhitzen.

Ich glaube, dass Literatur danach fragt, wie es ist, in einer bestimmten Zeit, die irgendwann historische Epoche sein wird, zu leben, und was für Auswirkungen diese ­Epoche auf den Einzelnen oder die Einzelne haben mag; also wie das, was wir die Geschichte nennen, auf ein Individuum wirkt. Literatur, denke ich manchmal, ist eine Form der Geschichtsschreibung, die sich nicht auf die Fakten beschränkt: eine Historiographie der Psyche und des Bewusstseins vielleicht, die Vorarbeit zu einer Archäologie der Gefühle.

Um Ihnen ein konkretes Beispiel zu geben: Am 22. Juli 2021 las ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit meinem Baby auf dem Arm eine Schlagzeile, die mir ein paar Sekunden lang die Luft wegbleiben ließ. „Buchpreis nach Liechtenstein“, hieß es dort, und darunter: „Nach Liechtenstein gehen wenige Literaturpreise, weil die Zahl der dortigen Schriftsteller der Größe des Landes entsprechend klein ist. Umso mehr Aufsehen erregte der Erstlingsroman ‚Für immer die Alpen‘ des Liechtensteiners Benjamin Quaderer. Nun erhält der Zweiunddreißigjährige dafür den Uwe-Johnson-Förderpreis.“ Ich möchte mich in aller Herzlichkeit für die Verleihung des Uwe-Johnson-Förderpreises bedanken. Diesen Preis zu erhalten bedeutet mir viel.

Benjamin Quaderer, geboren 1989, ist Schriftsteller. Mit dieser Rede bedankte er sich für den diesjährigen Uwe-Johnson-Förderpreis.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!