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#Atemloser Wille zum Glauben

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Atemloser Wille zum Glauben

Die einen besitzen und verinnerlichen ihren Glauben als sicheres, Halt gebendes Gut; andere müssen ihn atemlos erjagen, alle Kräfte aufbietend bei Gefahr existentieller Erschöpfung. Auf dieser Seite stehen René Jacobs, das Freiburger Barockorchester und der Berliner Rias-Kammerchor, wenn sie sich zum Medium des inneren Glaubenskampfes in Ludwig van Beethovens „Missa solemnis“ machen (auf CD bei Harmonia Mundi HMM 902427). Diese Interpretation aufs äußerste getriebener Extreme will und kennt wenig „klassisches“ Maß; sie verkörpert das scheinbare Paradoxon einer exzessiven Intensität.

Dabei steht der in zwei Gruppen geteilte Chor vor den (ebenfalls stehenden) Instrumentalisten, das Solistenquartett hinter ihnen – ein Positionswechsel gegenüber dem Gängigen, den man nicht nur im Booklet-Text und auf dessen Fotos beschrieben und abfotografiert sehen kann, sondern der tatsächlich auch hörbar wird in einer flirrenden und bebenden Innenspannung, welche die Klangsektionen nicht mehr als architektonisch geformte Massive über- und gegeneinanderwuchtet, sondern sie wie vulkanische Leuchtgarben ausbrechen, aufglühen und sich heiß wirbelnd vermischen lässt.

Zu tun hat das auch mit der im Laufe seiner Dirigier-Jahrzehnte immer mehr auskristallisierten Jacobs’schen Artikulation. Als gäbe es da einen geheimen, immer weiter ausgebauten Gebotskatalog, in dem etwa eine grundsätzliche Abneigung gegen verweichlichende, der Partitur aufgepfropfte Legati stünde, viel Sympathie aber für schroffe dynamische Terrassierungen und die gespannte Sprödheit eines vibratoarmen Klangbildes – woraus ein zwar frei fließender, aber durch zielgenaue, oft barsche Akzentsetzungen strukturierter Drive entsteht, federnd und sich oft gleichsam Ton für Ton voneinander abstoßend bis zum leichtfüßig hüpfenden „Dona nobis pacem“ am Ende des Werkes.

Wucht erwächst hier nicht aus Gravität, sondern wie bei einer hoch gehenden Brandung aus dem Aufwachsen, Kippen und Zerbrechen energetischer Verläufe, vermittelt über elementare organisch-körperliche Erfahrungen: Akkorde zucken wie Stromschläge durch die Nerven, die trockene Härte der Pauken schleudert immer wieder Adrenalinstöße in den Kreislauf, die extremen Höhenlagen der Chor-Soprane können, alle Fettschichten wegdampfend, durchdringend und reinigend sein wie Laserskalpelle.

Wer dazu Musiker hat wie den zwischen Kraft und Zartheit seiltänzerisch ausbalancierten Rias-Kammerchor, der binnen weniger Minuten vom ergriffenen Staunen des „Deum de Deo“ zum abgrundtiefen Entsetzen im „Crucifixus“ durch alle radikalen Beleuchtungswechsel fliegen kann, braucht hinsichtlich der rein statistischen Parameter keine besonderen Extravaganzen mehr. Bei der Besetzungsstärke geht Jacobs nur noch unwesentlich hinter die schlankstimmige Elastizität der Aufnahmen Philippe Herreweghes zurück, und hinsichtlich der Tempi war John Eliot Gardiner schon vor dreißig Jahren genauso forsch.

Worin Jacobs so neu und anders klingt, kommt aus einer tieferen Schicht. Das Zurücktreten des statuarisch Architektonischen gegenüber dem labil pulsierend Physiologischen in dieser Aufnahme, ihr Hineingerissensein anstelle eines herkulisch muskelfesten Pathos: Es ist die Offenlegung von Beethovens eigenen Verunsicherungen im Umgang mit seinem Gott. Diese Musik schaut weniger zum ewigen Sternhimmel als in die immer hoffende, oft verzweifelte und nur manchmal, aber dann um so ekstatischer triumphierende Gemeinschaft der Gläubigen, oder besser: der Glaubenwollenden.

Wobei es nicht so ist, dass eine vertrauensvolle und sehnsüchtig still ergebene Frömmigkeit hier gar keine Stimme hätte. Sie hat sogar vier: im lichttönigen Solistenquartett, wo Steve Davislims emphatisch ergriffener Tenor fast schon ins Androgyne gleitet, vor allem aber der kindhaft reine, anrührend unbeirrbare Glaubenston der Sopranistin Polina Pastirchak unmittelbar zu Herzen geht. Wenn sich das Quartett nach der ozeanischen, flutend taumelnden Credo-Fuge zwei Minuten lang auf dem abschließenden „Amen“ findet, malt sich aus den wuchernd schmachtenden, holdselig ineinander verschlungenen Vokalisen das Bild eines gleichermaßen kreatürlich unschuldigen wie sinnlich üppigen und sogar zärtlich lüsternen Paradiesgärtleins.

Ringen um Gewissheit

Es gibt manche solcher Ambivalenzen in Beethovens Partitur, und Jacobs kostet sie oft mit innigem Genuss aus. Zum Beispiel jene Passagen im „Credo“, die sich dem Wirken des Heiligen Geistes und der katholischen Kirche widmen und zu denen der Komponist hörbar auf Distanz geht – mit einer im Wortsinne „eintönigen“, also auf einem Ton rezitierten Litanei, die sich bei Jacobs noch weiter zu einem dürr rasselnd heruntergespulten Routinegeplapper verdünnt. Doch parallel dazu erklingt immer wieder, vielfältig durch die Register gereicht, jener trotzige Credo-Ruf, der sich leitmotivisch durch den ganzen Satz zieht: Sein lebendiges Ringen um Gewissheit schlägt das innerlich ausgehöhlte Buchstaben-Dogma.

Viele solcher Entschlüsselungen kann man hörend selbst erkunden, für andere gibt der Dirigent im Booklet-Interview Handreichungen, die oft hoch originell, manchmal freilich auch arg apodiktisch ausfallen; denn neben seinen Interpretationen, den verbalen und den klingenden, gibt es natürlich immer auch noch Hunderte weitere Möglichkeiten und gewiss nicht die eine und absolute – nicht einmal diese, die fraglos großartig ist. Das eben, der Umgang mit der Freiheit und das Wissen um ihre Grenzen, ist ja die Kunst in der Kunst; beglückend, hier dabei sein zu dürfen.

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