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#Attacke auf Gutmensch

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Attacke auf Gutmensch

Hunderttausende demonstrierten in den Achtzigerjahren gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik. Sie sahen sich selbst als Vertreter eines geläuterten Deutschlands, vereint unter dem Motto: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Für Wolfgang Pohrt hingegen manifestierte sich in den Massenprotesten und Sitzblockaden eine „deutschnationale Erweckungsbewegung“, deren Antiamerikanismus aus eben den trüben Quellen stammte, die sie zugeschüttet zu haben meinte. Der vor drei Jahren verstorbene Sozialwissenschaftler und Publizist witterte das, was er als „deutsches Wesen“ und NS-Disposition in jedem Gartenzwerg verkörpert sah, auch und besonders gern hinter den Motiven der sozialen Bewegungen, die von ihm nicht als Weiterentwicklungen, sondern als Verfallsprodukte der Achtundsechziger-Revolte wahrgenommen wurden.

Der Gesellschaftskritiker mit dem bösen Blick, der über Marxens Theorie des Gebrauchswerts promoviert und eine akademische Karriere abgebrochen hatte, erzielte seine größte öffentliche Wirkung in den Achtziger- und frühen Neunziger-jahren. Seine polemischen, auf Knalleffekte hin zugespitzten Essays und Glossen im Radio, in der Zeitschrift Konkret und den Zeitungen taz oder Die Zeit zielten nicht nur auf die Friedensbewegung. Auch den Antiatomkraft- und Umweltinitiativen warf Pohrt eine völkisch grundierte Gesinnung vor, er verspottete die Hausbesetzerszene als „Rebellion der Heinzelmännchen“, geißelte den linken Antiimperialismus als antisemitisch und sprach während des Zweiten Golfkriegs Israel das Recht zu, irakische Giftgasattacken mit einem Atomschlag zu beantworten. Die Shitstorms auf Leserbriefseiten und in Vortragsveranstaltungen, die Pohrt auslöste, bestätigten ihn in seiner Rolle als entlarvender Provokateur des links-grünen Justemilieu, das in jenen Jahren Gestalt annahm.

Viel Resonanz fand Pohrt zeitweilig bei den „Antideutschen“, einer Strömung, die zum einen die bedingungslose Solidarität mit Israel fordert und die zum anderen, da sie von Deutschen getragen wird, den Selbsthass als logische Existenzvoraussetzung hat. Doch auch deren Vertreter düpierte Pohrt, als er Anfang der Nullerjahre der alternden deutschen Gesellschaft das nationalistische Aggressionspotential absprach und stattdessen die mangelnde Integration von Migranten konstatierte. Die Gefahren des Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit, so Pohrts verschwörungstheoretische Pointe, seien von Politik und Medien aufgebauscht worden, um von der Agenda 2010 abzulenken. Gegen Ende seiner Laufbahn als Gesellschaftskritiker verkündete der Marxist die Alternativlosigkeit eines Kapitalismus, der selbst die Kritik an seinem System zu einer Funktion dieses Systems macht.

Bösartig und brillant

Ausstrahlung besitzt Pohrts irrlichterndes Œuvre noch immer. Das machte eine Veranstaltung deutlich, die unter dem Titel „Das Ende der Ideologiekritik? Erkundungen im Anschluss an Wolfgang Pohrt“ am Hamburger Institut für Sozialforschung stattfand. Die Erkunder waren Klaus Bittermann, Herausgeber der Werke Pohrts, Dietmar Dath, Redakteur dieser Zeitung, und Jan Philipp Reemtsma, Geschäftsführer der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. In deren Auftrag hatte Pohrt in den Neunzigerjahren Studien zum „Massenbewusstsein“ in Deutschland durchgeführt, die sich an Adornos Theorie der autoritären Persönlichkeit orientierten. Die methodischen Mängel seiner Befragungen räumte Pohrt selbst ein, was ihn nicht daran hinderte, die Ergebnisse zu dunklen Genrebildern deutscher Mentalität zu verdichten.

Wenn es um die Erforschung politischer Einstellungen in der Bevölkerung geht, ist an Studien, die Ideologiekritik im empirischen Gewand liefern, auch heute kein Mangel. Doch auch die Hartkern-Variante der Ideologiekritik im Stil des frühen Pohrt gehört noch nicht zum alten Eisen, wie man in Hamburg beobachten konnte: Etliche Teilnehmer der gut besuchten Veranstaltung waren zu Pohrts Hoch-Zeit noch nicht geboren. Ein Bindeglied zwischen Pohrt und jungen Intellektuellen ist die Frankfurter Schule.

Jan Philipp Reemtsma schilderte Pohrt als moderne Verkörperung des antiken Kynikers, der gegen alle anderen recht haben will und deshalb auch die, die ihm applaudieren, vor den Kopf stoßen muss. Der Dauergestus der Radikalkritik, die Negation als Lebenshaltung und die Provokation als Geschäftsmodell ließen Pohrt gelegentlich in die pure Bösartigkeit abgleiten. So äußerte er Verständnis dafür, dass sich Touristen aus „ästhetischen“ Gründen über die Anwesenheit behinderter Gäste im Speisesaal eines Hotels beschwert hatten, und deutete die Empörung darüber als typisch deutsche Vorliebe für die Hässlichkeit. Hinter dem Versuch der damaligen Frauenministerin Angela Merkel, die kommerzielle Verkuppelung thailändischer Frauen mit deutschen Männern zu unterbinden, vermutete er Angst vor „Rassenschande“ und den Konkurrenzneid deutscher Frauen. Die Betriebstemperatur der Dauerwut können die Menschenfeindlichkeit solcher Äußerungen erklären, aber nicht entschuldigen.

Pohrts Werk lässt sich lesen als Vivisektion und zugleich Symptom des Niedergangs einer Linken, in der die räsonierende an die Stelle der arbeitenden Klasse getreten ist. Seine Lektüre bietet aufblitzende Erkenntnisse und das Erlebnis eines oft geschliffenen, manchmal auch brachialen Stils – nicht weniger, aber auch nicht mehr. „Monomanen können im Ernst nicht helfen, wie brillant sie auch seien“, schrieb Golo Mann mit Blick auf Karl Kraus. Es gilt auch für Wolfgang Pohrt.

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