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#Auf Flügeln seufzenden Gesanges

Auf Flügeln seufzenden Gesanges

Sibirien macht zwar den flächenmäßig größten Teil von Russland aus, dennoch ist es ein Land im Land, das vom europäischen Teil einerseits ausgebeutet und als „Gefängnis ohne Dach“ genutzt wird, zugleich aber auch für Russlands historische Mission steht, die europäische Kultur bis zum Pazifik zu verbreiten. Mit den Siedlern und auch mit den Sträflingen kamen Bücher, Ideen sowie Musikinstrumente von diesseits des Urals ins nördliche Asien, wo das bloße Leben eine Herausforderung darstellt. Wenn die britische Reisejournalistin Sophy Roberts über Jahre durch Sibirien gefahren ist, um alte Klaviere zu finden, so betrieb sie damit eine Zivilisationsarchäologie eigener Art. Ihr Buch verwebt historische Exkurse mit Begehungen gottvergessener Orte und Figurenporträts von eindrucksvoller Kraft.

Kerstin Holm

Geschichte und Gegenwart mit dichten Fäden verwebend, zeichnet die Autorin ein Bild von Russlands Klavierkultur. Nachdem europäische Klaviermusik am russischen Hof en vogue wurde, ließ die deutschstämmige Kaiserin Katharina die Große sich 1774 ein Zumpe-Tafelklavier aus England liefern – das moderne Instrument der Stunde, das dann während des Zweiten Weltkriegs einige Jahre evakuiert in Sibirien verbrachte. Der Sohn von Katharinas Gouverneur im sibirischen Tobolsk, Alexander Aljabjew, wurde Pianist und Komponist und schrieb seine berühmtesten Lieder in sibirischer Verbannung. Eine echte Pianomanie lösten später die Auftritte von Franz Liszt in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts aus, als auch Clara Schumann in Petersburg spielte und der schulbildende deutsche Pianist Adolf Henselt nach Russland übergesiedelt war.

Sophy Roberts: „Sibiriens vergessene Klaviere“. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 398 S., Abb., geb., 26,– €.


Sophy Roberts: „Sibiriens vergessene Klaviere“. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020. 398 S., Abb., geb., 26,– €.

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Bild: Paul Zsolnay Verlag, Wien

Die bekannteste Klavierpionierin in Sibirien war die Fürstin Maria Wolkonskaja, die ihrem Mann, der an der Dekabristen-Verschwörung 1825 teilgenommen hatte, in die Verbannung folgte, wobei sie ihr Clavichord auf dem Schlitten mit sich führte. Im Irkutsker Wohnhaus der Wolkonskis, heute ein Museum, künden noch zwei altersschwache Klaviere von der heroischen Bildungsarbeit der Exilanten, die hier einst den ersten Konzertsaal errichteten.

Klaviere waren freilich extrem hinfällig, zumal im wilden Osten mit seinen Temperaturstürzen und der Lufttrockenheit im Winter. Immer wieder trifft die Autorin auf arg mitgenommene Instrumente, wie jenen in alle Einzelteile zerlegten Bechstein-Flügel in einer Werkstatt, den sie mit einem dem Tode nahen alten Trinker vergleicht, obwohl der Restaurator versichert, er werde ihn instand setzen. Das Los der Klaviere erinnert an das Leid und die Widerstandskraft von Menschen, speziell von Musikern im sibirischen GULag, wie der Pianistin Véronique Lautard-Schewtschenka (1899bis1982), die in der Haft auf einer geschnitzten Holztastatur „geübt“ haben soll, oder des Komponisten Wsewolod Saderatzki (1891bis1953), der im fernöstlichen Magadan ohne Instrument einen Zyklus von vierundzwanzig Präludien und Fugen schuf.

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