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#Aus dem Kessel der Medea

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Aus dem Kessel der Medea

Zeitlos ist sie wie der Tod. Oder nur antizyklisch? Ihr deutscher Trivialname jedenfalls trügt. Je nachdem, ob man von der Herbst-Zeitlosen oder der Herbstzeit-Losen spricht, verrät die krautige Pflanze einen anderen Hintersinn. Wenn sie im September zu blühen beginnt, „lost“ sie den Herbst, sagt ihn voraus, denn „liozan“ bedeutete im Althochdeutschen noch „wahrsagen“, das Los werfen. Schicksal steckt in dieser Blume, auch ein loses Mädchen, um nicht mit Hieronymus Bock, dem Altmeister unter den Botanikern (1498-1554), von „nacket huren“ zu sprechen. Denn sie blüht ohne Laubblätter, ein Trichter auf langer Röhre, zart violett, wie „korykischer Krokus“, schrieb Apollonios von Rhodos in seinen „Argonautika“. War die Herbstzeitlose womöglich jene Blume, die Medea zur „Prometheischen Salbe“ verarbeitete, um ihren geliebten Jason gegen das Feuer der kolchischen Stiere zu feien?

Claudia Schülke

Damit kommt der wissenschaftliche Name der Zeitlosen-Gattung ins Spiel: Colchicum. Die antike Landschaft Kolchis lag im heutigen Georgien, zwischen der Ostküste des Schwarzen Meeres und dem Kaukasus, wo der Titan, der den Menschen das Feuer brachte, seine Freveltat an einen Felsen geschmiedet büßen musste. Seinem Blut soll die Zauberblume entsprossen sein. Medea kannte sie, schließlich war sie ja „die mit dem guten Rat“ – Prophetin und Priesterin der Hekate, einer chthonischen Gottheit und Herrin der Zauberei. Kein Wunder, dass ihre treue Dienerin zur Erzmutter aller Hexen und Giftmischerinnen wurde, die zuerst – noch ganz schamanisch – ihren Bruder zerstückelt, dann ihre Rivalin vergiftet und zuletzt ihre Kinder ermordet, wie Euripides in seiner gleichnamigen Tragödie beklagt. Sie soll auch ihren greisen Schwiegervater wieder jung gekocht haben. Als der Kräutersud aus dem Kessel spritzte „und glutheiße Tropfen auf die Erde fielen, wird es am Boden Frühling“, so schildert Ovid die Geburt der Zeitlosen in seinen „Metamorphosen“.

Die letzten Hummeln bestäuben sie

Welche Pflanze kann sich schon auf so viele archaische Geschichten berufen wie Colchicum variegatum. In Mitteleuropa hingegen wächst Colchicum autumnale, die wohl berühmteste Art unter den rund hundert Spezies der lilienartigen Zeitlosengewächse und nicht minder giftig als ihre Verwandte im Kaukasus. Sie wird von den letzten Hummeln und Bienen des Jahres bestäubt, und falls es schon zu kalt ist, senkt sie ihre sechs Staubblätter und befruchtet sich selbst. Der Pollen muss fünfzehn bis zwanzig Zentimeter durch die Blütenröhre hinabwandern, um den unterirdischen Fruchtknoten zu erreichen. Im Frühsommer treiben die Laubblätter mit einer noch unreifen Kapselfrucht aus, bevor sie zur Blütezeit wieder verkümmern. Sie ähneln fatal den Blättern des Bärlauch und werden auch häufig mit diesen verwechselt. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal: Bärlauchblätter riechen nach Knoblauch.

Nach dem Genuss der Herbstzeitlosen aber brennen zuerst die Mundschleimhäute. Erbrechen und blutige Durchfälle folgen, der Tod tritt durch Atemlähmung ein – bei vollem Bewusstsein. In einer Gartenwiese, auf der Kinder spielen, sollten Colchicum-Knollen daher nicht verwildern. Auch die sechs zarten Kronblätter beherbergen nämlich rund 20 Alkaloide, darunter Colchicin, ein Zellgift, das die Ausbildung der Spindelfasern und damit die Mitose hemmt. Das verwandte Demecolcin wird heute in der Krebstherapie eingesetzt. Colchicin selbst ist als potentielles Covid-19-Medikament im Gespräch.

Doch schon zu Neros Zeiten hatte der griechische Arzt Dioskurides die Pflanze beschrieben und vor ihrer Anwendung gewarnt. Als Tinktur in homöopathischen Dosen wurde ihr tödliches Gift dennoch gegen rheumatoide Krankheiten eingesetzt, schließlich gleicht die Sprossknolle einer gekrümmten Gichtzehe. Die Signaturenlehre der frühen Neuzeit lässt grüßen. In Pestzeiten trug man den Wurzelspross sogar um den Hals. Landwirte fürchten die Blume auf ihren Fettweiden, denn sie tötet Pferde und Schweine. Rinder, Schafe und Ziegen reagieren nicht so empfindlich. Allerdings geht das Gift auch als Heu und Silage in die Milch über und kann somit auch Menschen schaden. Sollte Colchicin das Coronavirus besiegen, hätten Prometheus und seine Schülerin Medea der Menschheit noch einen Dienst erwiesen.

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